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Rattentanz

Titel: Rattentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tietz
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Ruinen, die vom Cha os der ersten Tage übrig geblieben waren, gewöhnten sie sich nicht. Es war jedes Mal wie ein Schuss vor den Bug. Halt, ihr Lieben, rief das Schicksal, fühlt euch nur nicht zu wohl. Ich kann auch anders, wie ihr seht!
    »Welcher Tag ist heute?« Silvia, die noch ein paar Brote mehr gebacken und zum Abkühlen ausgelegt hatte, kam zu Hans und Malow unter die Plane. Larissa spielte mit einer Puppe. Hans hatte sie ihr aus einem alten Hemd, Bindfaden und Stroh gebastelt. Voller Hingabe spielte sie mit ihrer Buppa.
    »Montag, wenn meine Uhr nicht lügt«, sagte Malow.
    »Ich meine, welches Datum ist heute? Der vierzehnte oder fünfzehnte?«
    »Der sechzehnte.«
    Hans nickte. »Sagt meine Uhr auch.«
    »Was? Der sechzehnte schon?«
    »Und? Ist doch egal, welcher Tag heute ist«, sagte Malow. »Wichtig ist nur, dass wir in ein paar Tagen endlich in Wellendingen sind.«
    »Aber heute ist ihr erster Geburtstag«, erwiderte Silvia. Sie streichelte Larissa. »Und ich habe nicht einmal ein Geschenk für dich.«
    Silvia war plötzlich wieder am Ufer der Bleilochtalsperre. Larissa wur de von einem Seil festgehalten, lag auf dem Rücken und weinte. Wie lange war das her? Drei Wochen? Waren erst drei Wochen seit dem Wunsch vergangen, Larissa möge am nächsten Morgen nicht mehr er wachen? Vor einem Jahr hatte Larissa in einer Berliner Klinik ihr Leben begonnen und nun lag sie hier im Gras neben einem Lagerfeu er und kaute an ihrer Puppe. Wo würde Larissa sein, wenn ein weiteres Jahr Vergangenheit war? Wo würde sie selbst dann sein? Silvia schluchzte.
    »Ich hab vielleicht noch was!« Hans zog sich an seinem Stock hoch und humpelte zu seinem Rucksack. Er ließ sich auf die Knie nieder und durchsuchte den Inhalt, bis er endlich gefunden hatte, was er eigentlich für Lea aufgehoben hatte.
    »Da. Gib das Larissa.«
    Es war eine winzige Tüte mit kleinen, bunten Gummibären – ein Werbegeschenk aus der alten Zeit. Ein Leuchten ging über Silvias Gesicht. Sie öffnete die Tüte und gab sie ihrer Tochter.
    »Alles Gute zum Geburtstag«, sagte sie.
    Larissa betrachtete die bunten, unbekannten Dinger. Sie drehte die Tüte hin und her und die Gummibären fielen ins Gras. Auf allen vieren krabbelte sie von einem zum anderen, leckte am ersten, verschluck te den zweiten und verschlang schließlich den Rest. Voller Erwartung sah sie zu ihrer Mutter auf, sie wollte mehr.
    »In deinem Wellendingen wird es ähnlich aussehen wie in all den Dörfern unterwegs«, sagte Malow.
    »Anzunehmen.«
    Hans wollte dieses Gespräch nicht, nicht dieses Thema. In den letzten Tagen war er jedem Versuch Malows, über das zu reden, was in Hans’ Heimat geschehen sein könnte, aus dem Weg gegangen.
    »Du weißt, dass Eva nicht die besten Karten hatte in den letzten Wochen. So ohne Mann und mit Kind, meine ich.«
    »Müssen wir das jetzt besprechen? In drei, spätestens vier Tagen sind wir da. Dann sehen wir, was los ist.«
    »Klar«, sagte Malow. »Nur solltest du die Möglichkeit, dass Eva und Lea etwas passiert sein könnte, nicht permanent verdrängen. Nach dem, was wir unterwegs gesehen haben, hatten sie vielleicht eine Chan ce von drei zu eins. Gegen sich, versteht sich. Mit etwas Glück zwei zu eins, was immer noch ziemlich mies ist, wenn du mich fragst.«
    »Ich frag dich aber nicht, Malow!« Die Antwort kam schärfer als beabsichtigt. »Entschuldige.«
    »Schon in Ordnung.« Malow stocherte mit einem Stock in der Glut herum.
    »Welchen Sinn hätte diese Reise, wenn ich nicht felsenfest davon überzeugt wäre, dass es Eva und Lea gut geht? Wozu das dann alles?«
    Mit zwei gesunden Beinen wäre er jetzt aufgesprungen und hin und her marschiert, so aber musste er neben Malow sitzen bleiben und in die Glut starren. »Ich habe mir sicher Hundert Mal vorgestellt, wie es sein wird, wenn wir nach Hause kommen und glaub mir, ich habe von ihren Gräbern geträumt und wie sie gestorben sind. Durch was oder wen. Ich weiß, dass sie keine besonders rosigen Chancen hatten. Und? Ändert das irgendwas? Nein! Ich will, nein, ich muss glauben, dass sie leben und es ihnen gut geht, sonst könnte ich mich gleich an Ort und Stelle umbringen. Dann wärt ihr endlich frei und du könntest auf dem kürzesten Weg nach Italien.«
    Es war das erste Mal in all den Wochen, die er mit Malow unterwegs war, dass er ihm gegenüber von seiner Angst sprach. Festgebun den auf seinem Schlitten hatte Hans zu viel Zeit gehabt, über das, was ihn erwartete, nachzudenken. Und

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