Rattentanz
Himmel in der Lage. Mehr als acht Wochen waren seit dem 23. Mai vergangen, sieben Wochen waren Hans und Malow nun gemeinsam unterwegs und seit sechs Wochen gehörten Silvia und Larissa dazu. Heute sollte die Reise zu Ende gehen. Musste!
In Mundelfingen war die Straßensperre nach wie vor intakt und bewacht. Es war dieselbe Straßensperre, die schon Hans’ Frau, Thomas Bachmann und Joachim Beck um den Ort herum gezwungen hatte. Ein einzelner, älterer Mann ließ sich auf keinerlei Diskussionen ein. Auch wollte oder konnte er ihnen nichts über Wellendingen erzählen. Das Beispiel Hausen vor Wald hatte die Mundelfinger vorsichtig gemacht. Alles Fremde war in ihren Augen nach wie vor gefährlich, ei ne Bedrohung ihres mageren Lebens. Woher sollten sie auch wissen, dass die Katastrophe in der Nachbargemeinde hausgemacht gewesen war?
Die Gruppe umging den Ort. Die Straße verlief noch ein kurzes Stück über freies Feld, dann begannen die engen Windungen hinunter in die Wutachschlucht. Nach wenigen Hundert Metern standen sie vor dem ausgebrannten Reisebus, der nach wie vor quer über der Straße lag und diese blockierte.
»Warum halten wir?« Hans, den Blick nach hinten gerichtet, sah das Ungetüm erst, als er sich auf seinem Schlitten umdrehte. Alle Hoff nung, heute noch nach Wellendingen zu kommen, verschwand in den verfaulten Innereien des Busses. »Da komme ich nie rüber.«
»Gibt es noch einen anderen Weg?«, fragte Malow.
»Mehrere«, antwortete Hans. »Aber jeder kostet uns mindestens einen Tag.«
»Den du nicht hast, oder?«
Hans schüttelte den Kopf.
Malow ging zum Bus. Ein Baumstamm lehnte an ihm, der offenbar als eine Art Leiter diente. Der Steilhang, links vom Bus, war teilweise abgebrochen. Überall lagen Felsbrocken und Schutt.
Malow kletterte auf den Bus, auch auf der anderen Seite lehnte ein Baum. »Dich bringen wir rüber«, sagte er zu Hans. »Nur mit deinem Schlitten sieht es schlecht aus, der ist zu schwer und ihn auseinanderund wieder zusammenzubauen dauert zu lange, da könnten wir auch gleich den Umweg nehmen.«
»Dann laufe ich eben!«
Sie brachten zuerst ihr spärliches Gepäck über das Hindernis, dann Hans’ Stöcke, schließlich ihn selbst. Sie banden ihm ein Seil unter den Schultern vor der Brust zusammen, warfen es über den Bus und zogen ihn von der anderen Seite aus Stück für Stück nach oben. Als er fast oben war, knoteten sie das Seilende an der verbogenen Leitplanke fest, Malow kletterte zurück auf den Bus und half Hans die letzten Zentimeter hinauf. Silvia warf das Seil herauf, stieg hoch zu Malow und zusammen ließen sie Hans hinunter. Der Bus kostete sie fast eine Stunde, die Zeit, die sie durch ihre nun folgende Langsamkeit einbüßen würden, nicht mitgerechnet. Hans lotste sie, wie es Wochen zuvor bereits Eva mit Thomas und Joachim Beck gemacht hatte, an Ewattingen vorbei nach Münchingen. Die Einwohner Münchingens hatten ihr Dorf vor zehn Tagen endgül tig aufgegeben. Alle Bemühungen, die zugeschütteten alten Brunnen freizulegen, waren fehlgeschlagen. Die Trockenheit der letzten Wochen hatte den ohnehin kärglichen Dorfbach vollends versiegen lassen, sodass es keine andere Wahl gab als Vieh und Vorräte zusammenzupacken. Da man nicht mit leeren Händen kam, wurden sie in den umliegenden Dörfern aufgenommen. Als sie Münchingen hinter sich hatten, setzte die Dämmerung ein. Das Hardt oberhalb Wellendingens erreichten sie gegen Mitternacht. Hans’ Hände waren von Blasen überzogen, seine Achseln schmerzten und in seinem verletzten Bein klopfte es verdächtig. Malows Taschen lampe spendete kaum noch genügend Helligkeit. Fassungslos betrach tete Hans die herumliegenden Flugzeugtrümmer, dann kamen sie am Massengrab vorbei, auf dem frische Blumen standen. Das Getreide, das überall zwischen den Trümmern wuchs, hatte jemand vor wenigen Tagen geschnitten.
102
20. Juli, 00:18 Uhr, Wellendingen
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Sie hatten die ersten Häuser Wellendingens fast erreicht, als plötzlich Licht aufflammte und sie blendete.
»Halt!«, schrie es ihnen entgegen. Zeitgleich hörten sie ein Klicken. Jemand entsicherte seine Waffe.
103
00:32 Uhr, Wellendingen
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Eva Seger konnte nicht wieder einschlafen. Fausts Gästezimmer, in dem Eva und Lea seit dem 18. Juni schliefen, war nicht sonderlich groß. Immerhin war es gemütlich. Aber es war nun einmal nicht ihr Bett, in dem sie die einsamen Nächte ohne Hans verbrachte. Das dort war nicht ihr Schrank, es war nicht ihr Haus. Aber
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