Rattentanz
eigenen, strahlend schönen Augen. Es war ein Opfer und dieses Opfer war nicht umsonst, davon war Martin Kiefer felsenfest überzeugt. Und die gleiche Überzeugung sagte ihm, dass Eva sein Martyrium verstand. Sie wird mir folgen, dachte Kiefer. Nur ein paar Augen blicke und wir sind endlich vereint. »Ich gehe vor, Eva. Ich warte auf dich«, flüsterte er. Aber jeder verstand ihn, selbst die in den hinteren Reihen. Auch Eva Seger verstand jedes einzelne Wort und sie versteckte sich vor Kiefers irren Blick hinter den Schultern ihres Mannes.
Roland Basler stieß Uwe Sigg nach vorn. »Du bist dran«, sagte er.
Sigg ging, wie ihm befohlen. Er nahm Kiefer am Arm und führte ihn unter den Galgen. Ohne Gegenwehr ließ Kiefer sich die grobe Schlinge um den Hals legen. Die Sonne schien ihm ins Gesicht, ein Hahn krähte und das Letzte, was er sah, bevor Sigg ihm einen Sack über den Kopf stülpte, war eine Amsel, die mit lautem Zetern vom Dach des Gasthauses aufflog.
Dann trat Eckard Assauer nach vorn.
»Wir alle haben Martin Kiefer für seine Taten zum Tode verurteilt. Keiner hier will das, was nun geschehen wird. Aber wir können den Mord an mindestens zwei Menschen und alles andere, was Martin Kie fer dem Dorf angetan hat, nicht ungestraft lassen. In einer anderen Zeit wäre ihm und uns dieses Urteil erspart geblieben, hätten andere Menschen für uns gerichtet und eine andere Strafe gewählt. Aber wir sind allein und auf uns gestellt und so, wie wir uns gegenseitig helfen und unterstützen müssen, sind wir auch verpflichtet, Unrecht zu bestrafen. Martin Kiefer hat Unrecht begangen. Zur Strafe haben wir ihn zum Tod durch den Strang verurteilt.«
Assauer stand der innere Kampf ins Gesicht gemeißelt. Er trat zurück und nickte Uwe Sigg zu. Siggs Hände zitterten. Er bückte sich und griff nach dem aus dem Podest ragenden Hebel, der den Riegel un ter der Falltür zurückziehen sollte. Sigg spürte Dutzende Augenpaare auf sich gerichtet. Alles hielt den Atem an.
»Nein!« Eva konnte nicht mehr. »Nein, wartet! Ich begnadige Martin! Hört ihr, ich begnadige ihn!« Sie bahnte sich einen Weg durch die Masse. Uwe Sigg kniete neben dem Hebel und blickte zu Assauer hinüber. Was jetzt?!, fragten seine Augen.
»Bitte nicht.« Eva hatte den Rand des Podestes erreicht. Vom kurzen Weg und dem Gerangel mit den Männern und Frauen, die sie nicht nach vorn lassen wollten, außer Atem, blickte sie zu Eckard Assauer auf. »Ich verzeihe ihm«, sagte sie. Eckard Assauer brauchte einen Moment, um die veränderte Situation zu erfassen. Eva wollte Gnade und verzieh Kiefer. Dies war die eine Seite der Medaille. Aber konnten auch Susanne und Bubi verzeihen? Er sah beide mit versteinerten Gesichtern am Rand der Versammlung stehen. Auch sie starrten Assauer an, wie jeder hier.
»Was soll ich tun?«, fragte Sigg.
»Warte!«, befahl Assauer und streckte die Hand aus.
»Wozu warten?!«
Basler stieß Uwe Sigg zur Seite und trat mit aller Kraft gegen den Hebel. Der einfache Mechanismus öffnete die Falltür und Martin Kiefer spürte, wie der Halt unter seinen gefesselten Füßen verschwand. Gleichzeitig zog sich das Seil um seinen Hals zu. Eva schrie auf und schlug die Hände vors Gesicht.
Als Kiefers Genick brach, war das Knacken bis in die letzte Reihe zu hören. Hans Seger atmete aus. Es war vorbei. Er ging zu seiner Frau und nahm sie in den Arm.
Bardo Schwab und Christoph Eisele schnitten den Leichnam vom Seil. Die Menge hatte sich rasch zerstreut, fast waren sie geflohen, als seien sie überrascht und entsetzt, dass den hitzigen Worten aus der Verhandlung tatsächlich Taten gefolgt waren.
Basler war zufrieden. Kiefer konnte nun nichts mehr verraten und Bubi war in die ganze Sache selbst viel zu tief verstrickt als dass er den Mund aufmachen konnte. Assauers öffentliche Vorwürfe und bö sen Blicke waren leicht zu ertragen, wenn man sich nun endlich wieder auf der sicheren Seite befand und die Zukunft neu begann. Diesmal angstlos.
Sie legten Kiefers Körper in eine Schubkarre. Seine Hosenbeine waren nass. Strick und Sack ließen sie, wo diese waren und verließen Wellendingen nach Westen, um Kiefer irgendwo außerhalb des Ortes zu vergraben.
Sie fanden eine kleine Lichtung im Wald nach Wittlekofen. Bei Sonnenuntergang hatten sie Kiefer verscharrt und eine junge Eiche auf seinem Grab gepflanzt. Pfarrer Kühne, der sie begleitete, sprach ein kurzes Gebet.
Außer diesen drei Männern wusste niemand, wo Kiefers Grab lag. Die kleine
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