Rattentanz
Eiche trieb im Folgejahr noch einmal aus, im Jahr darauf war sie tot.
Epilog
23. Mai, Wellendingen, Hardt
----
Der 23. Mai begrüßte Wellendingen mit einem reinen, blauen Himmel ohne jeden Makel. Alles duftete nach Frühling, Geburt, Wachstum und Leben. Auf dem Hardt blühten Wiesenblumen und Orchideen, von Schmetterlingen und Bienen umworben, und breiteten einen bun ten Teppich zwischen den Flugzeugtrümmern aus. Der Zeigefinger des ausgebrannten Flugzeugrumpfes war Ende Februar, als der Frost aus dem Boden gekrochen war, mitsamt dem Hang, aus dem er aufragte, abgerutscht. Nun lag er wie ein gestürztes Denkmal am Fuß des Höhenzuges. Niemand beachtete ihn mehr und in zwei, drei Jahren hatten ihn bestimmt Sträucher und Unkraut für immer überwuchert.
Wie Ameisen krochen die Menschen aus den wenigen noch bewohnten Häusern in der Ortsmitte. Sie strebten den Hang hinauf, der Unglücksstelle zu, die jetzt das Symbol für dieses neue Zeitalter war. Diesen ersten Jahrestag der Katastrophe beging das Dorf auf Vorschlag ihres Bürgermeisters mit einem Gottesdienst am Massengrab auf dem Hardt. Danach wollte man unten im Dorf feiern; sie hatten dieses erste Jahr der neuen Zeitrechnung überlebt.
Pfarrer Kühne wartete bereits. Er hatte einen schlichten grauen Anzug angelegt. Seit seiner Hochzeit mit Sarah Werner trug er den offi ziellen Ornat der katholischen Kirche nicht mehr.
Sarah Werner war im Frühherbst aufgetaucht. Und geblieben. Sie hatte bis zur Katastrophe als Krankenschwester in Waldshut gearbeitet. Was sie in den Monaten bis zu ihrer Ankunft in Wellendingen ge tan hatte, darüber schwieg sie sich aus. Aber sie kam gerade rechtzeitig, um Eva Segers Platz als Krankenschwester einzunehmen, denn Evas Zustand behinderte diese mehr und mehr und ab Oktober konnte sie kaum noch Treppen steigen.
Um Weihnachten herum wurde bekannt, dass den Pfarrer und die neue Krankenschwester mehr als nur die Sorge um das körperliche und geistige Wohlergehen der kleinen Gemeinde verband. Thomas hatte als einer der Ersten bemerkt, dass zwischen dem Pfarrer und der Frau, die wie er ein Zimmer im Pfarrhaus bewohnte, mehr war als gegenseitiger Respekt. Aber er konnte schweigen. Und er konnte sehen. Thomas besaß ein feines Gespür für das, was Menschen nicht sagen. Worte sind Luftblasen. Selten sind sie die Zeit und die Energie wert, die sie verbrauchen. Das allerdings, was nicht ausgesprochen wird, erzählt meist mehr und vor allem erzählt es die Wahrheit. Und die Wahrheit war, dass Sarah Werner und der Pfarrer ein Paar waren. Einmal hatte er sie in der Küche überrascht. Fräulein Guhl arbeitete hinter dem Haus und als Thomas auf der Suche nach einem Glas Wasser in die Küche gestürzt war, da standen Sarah Werner und der Pfarrer und zuckten auseinander. Ihre Hände hatten sich berührt.
Es gab wenige, und das waren vor allem ein paar Alte und Konservative, die sich an der ungewohnten Liaison ihres Hirten störten. Die meisten freuten sich für die beiden und ihre Hochzeit Anfang Februar wur de das erste große Fest in Wellendingen, das erste Fest der neuen Zeit.
Ein harter Winter lag hinter allen. Nicht lang, aber hart, mit Temperaturen unter minus zwanzig Grad. Ein unverbesserlicher Säufer, Alf Weber, war erfroren. Zum Glück der Einzige, der den Temperaturen zum Opfer gefallen war und er war selbst schuld gewesen. Weber hatte zu viel von seinem im Herbst angesetzten Apfelwein getrunken und war nur zwei Meter von seinem Hauseingang entfernt gestürzt, im Schnee liegen geblieben und erfroren.
Eugen Nussberger hatte wieder mit dem Rauchen angefangen. Er sammelte im Herbst jedes Kraut, das ihm in die Finger fiel, schnitt es in dünne Streifen und trocknete es. Eines der Kräuter war wohl nicht so be kömmlich gewesen, vielleicht lag es auch an der Kombination – jedenfalls starb er nach einem heftigen Hustenanfall. Das war am Anfang dieses neuen Jahres. Jetzt war er endlich wieder bei seiner Schwes ter.
Das Baby von Eva und Hans Seger kam am 19. November zur Welt, drei Wochen vor dem erwarteten Termin. Wie schon acht Jahre zuvor bei Leas Geburt ging auch diesmal alles glatt. Die Fruchtblase platzte, als Eva bei Susanne Faust in der Küche saß. Bubi rannte ins Pfarrhaus, um Sarah Werner zu holen, und Susanne kümmerte sich um die Sauerei auf dem Boden. Als Bubi mit Krankenschwester und Pfarrer zurückkam, war das Köpfchen schon draußen. Fünfzehn Minuten später hielt Hans Seger seine zweite Tochter im Arm. Der
Weitere Kostenlose Bücher