Rattentanz
Pfarrer taufte sie am nächsten Tag auf den Namen Tina Hildegund Seger. Tina, weil Hans das Mädchen aus Schweden nicht aus dem Kopf ging. Oft fragte er sich, ob sie sich und den kleinen Jungen gerettet hatte. Den zweiten Namen hatte Eva vorgeschlagen, um Hildegund Teufel zu ehren. Die alte Frau hätte sich gefreut.
Auch Petra Sutters Baby gedieh prächtig. Sie brachte ihren Jungen nur neun Tage nach Eva Seger zur Welt.
Inzwischen liefen fünfzig Prozent der Frauen zwischen fünfzehn und fünfundvierzig mit einem dicken Bauch herum – das Fehlen von Pille und anderen Verhütungsmitteln machte sich bemerkbar. Vielleicht lag es aber auch an den langen Winterabenden und dem wirklich schlechten Fernsehprogramm in diesen Tagen.
Bubi Faust hatte Wellendingen am achtzehnten März verlassen. Ohne Jochen Gude, der im Herbst in den Ort kam und blieb, wäre Bu bis Mutter nun völlig allein gewesen. Aber Gude hatte keine anderen Ziele und inzwischen waren er und Susanne ein Paar und es störte ihn auch nicht, dass Susanne jeden Tag die Bilder ihres ersten Mannes abstaubte und bei Sonnenuntergang auf den Friedhof ging.
Bubi hatte erst Anfang März den Mut aufgebracht und seine Rolle bei Kiefers Tun erklärt. Hans, der im Herbst offiziell zum Bürgermeister gewählt worden war, hatte ihm still zugehört. Dann war er aus dem Zimmer gegangen und kurz darauf mit Eva zurückgekehrt. Bubi erzählte Eva die ganze Geschichte, entschuldigte sich und Eva verzieh ihm. Trotzdem zog er es vor, Wellendingen eine Zeit lang zu verlassen. Vielleicht könne er, so Bubi, an einem anderen Ort sich selbst verzeihen, hier in Wellendingen − Eva und das Grab seines Vaters stets vor Augen − könne er es nicht. Sie ließen Bubi nur ungern gehen, denn von der Person, die er noch vor einem Jahr gewesen war, war heute nichts mehr übrig. Er hatte sich zu einem drahtigen Arbeits tier entwickelt, den man oft um Rat und Hilfe bat, der wenig sprach und überall anpackte.
»Er wird seinem Vater immer ähnlicher«, sagte man zuletzt im Dorf und hoffte, dass er irgendwann zurückkam.
Kurz nach Bubis Geständnis hatte die Dorfgemeinschaft einstimmig Rike und Roland Basler aus Wellendingen verbannt. Man gab ihnen sechs Stunden, ihre Sachen zu packen und zu verschwinden. Wie Hans einige Tage später erfuhr, hatte Basler versucht, in Bonndorf unterzukommen, aber auch da wollte man ihn nicht mehr haben. Die Wahrheit über Basler verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Wohin er schließlich weitergezogen war, wusste niemand.
Als der erste Schnee fiel, hatte man, um Heizmaterial zu sparen, viele Häuser aufgegeben und war in der Mitte des Ortes, zwischen Kir che und Krone, in insgesamt zwölf Häusern zusammengezogen. Man hatte den Ort nach Öfen durchsucht und die Fundstücke in die ausgesuchten Häuser eingebaut. Und ab und zu, je nach Windstärke, flackerten für ein paar Minuten oder auch Stunden die Lichter auf. Und dies war nicht das Ende der technischen Revolution! Stadler brachte von einem winterlichen Ausflug nach Waldshut fünf CB-Funk geräte mit. In den Tagen nach dem 23. Mai hatte der eine oder andere Funker noch Kontakte aufrechterhalten können, aber eben nur, so lange sein Gegenüber noch lebte und der Akku noch Leistung brachte. Und sowohl das eine wie das andere hielten nicht ewig.
Im zurückliegenden Winter aber schafften es Stadler und seine Freunde, die Funkgeräte mit jeweils einem Solarpaddel zu verbinden. Seitdem stand Wellendingen in regelmäßigem Kontakt zu den Nachbarorten. Im April empfingen sie sogar Funksignale aus Spanien, vergangene Woche aus der Slowakei.
Die mittlerweile dreiundneunzig Einwohner Wellendingens waren stolz auf die gute Ernte des Vorjahres und dass sie diesen ersten Winter gemeinsam überstanden hatten. Zwar erschöpften sich im April und Mai die angelegten Vorräte fast vollständig und jeder ging mit knurrendem Magen ins Bett, aber, anders als im Vorjahr, starb diesmal niemand am Hunger.
Pfarrer Kühnes Predigt war kurz und voller Lebenslust. Die Gemeinschaft hatte sich bewährt. Und Sarah Werner wusste seit gestern, dass nun auch sie schwanger war! Kühne konnte seine Freude während der Predigt kaum bändigen. Am liebsten hätte er sein Glück hinausgeschrien und jeden Einzelnen umarmt.
Nach dem Ende des Gottesdienstes – die Menschen waren zurück im Dorf, über einem Feuer röstete ein Kalb und Blasmusik klang bis aufs Hardt hinauf – hockte Thomas Bachmann noch immer auf einem Baumstumpf. Lea saß neben
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