Rattentanz
Keiner sagte ein Wort, keiner bewegte sich. Mehmet, fünf Stufen oberhalb von Beck, hatte den Vorteil eines Angriffes von oben auf seiner Seite, während Beck dem Teenager an Kraft und Kampftechnik überlegen war. Also stand es unentschieden.
Beck war am Nachmittag wie betäubt durch Donaueschingen getorkelt, benommen von der Todesangst, die er neben der Leiche hatte ausstehen müssen. Wäre diese Krankenschwester nicht gewesen, Ritter hätte ihn sicher erlegt wie ein kränkelndes Stück Wild.
Er war an geplünderten Banken vorbeigekommen und an Supermärkten, aus denen biedere Rentner bergeweise Toilettenpapier schleppten und Kinder sich hemmungslos an der Seite ihrer Eltern bedienten. Ein Mann, der Kleidung nach Handwerker, montierte in einem Geschäft in aller Seelenruhe das gesamte Regalsystem ab und verstaute es in seinem Kleinbus. Vom Eigentümer oder Geschäftsführer war weit und breit nichts zu sehen. Joachim Beck taumelte weiter, vorbei an der Stadtkirche, in die Menschen strömten, um zu beten. Sie zündeten Kerzen an, die die Chancen ihrer Gebete eine Etage weiter oben verbessern sollten.
Das Fürstlich Fürstenbergische Schloss glich einem Selbstbedienungsladen. Vor dem Portal parkten Kleinlaster und Pkw mit Anhänger und immer mehr Menschen kamen, durchsuchten die prunkvollen Säle und Aufgänge und nahmen mit, was ihnen brauchbar oder wertvoll erschien. Oder einfach nur schön.
Beck war sich der geänderten Zeiten und auch seiner Ohnmacht durchaus bewusst. Er ignorierte das Chaos und die Gesetzesübertretungen, die an diesem Tag aus vielen bisher unbescholtenen Bürgern gemeine Verbrecher machten. Selbst wenn er gewollt hätte – ohne Uniform, ohne Waffe, Dienstausweis und ohne seine Kollegen war er machtlos, allein und ein Nichts.
Er erreichte seine Wohnung. Den Schlüssel hatte er, wahrscheinlich zusammen mit seinem Geldbeutel und der Dienstmarke, irgendwo zwischen Sparkasse, Polizeirevier und Krankenhaus verloren. Mit dem einen noch vorhandenen Schuh trat er die Tür ein. Passende Schuhe hatte Eva nicht gefunden, nur eine graue Bundfaltenhose mit Bügelfalte und einen ausgewaschenen roten Pullover, die sie ihm, während er aufgeregt und zitternd in dem kleinen Aufenthaltsraum der Station Kaffee getrunken hatte, unter die Nase gehalten hatte.
»Ziehen Sie das an«, hatte Eva gesagt. »Es ist besser als das, was Sie noch am Leib haben.« Womit sie zweifellos im Recht war. Seine Uniform hing in Fetzen an ihm, teilweise blutverschmiert und kaum noch als das zu erkennen, was sie vor wenigen Stunden noch gewesen war: Symbol von Recht, Ordnung und Freiheit in diesem Land – die staatliche Gewalt. Wo war diese Gewalt jetzt?, hatte er überlegt, als er seine Wohnung betrat. Wohin ist plötzlich der Staat?
Die vier Schmerztabletten, die Eva im noch in die Hand gedrückt hatte, waren zu diesem Zeitpunkt aufgebraucht. Bis auf eine. Aber dafür spürte er wenigstens seine schiefe Nase nicht mehr und konnte seine rechte Hand einigermaßen ertragen. Die Schnittwunden, die er sich zugezogen hatte, als er Ritter die Scherbe ins Bein stieß, waren noch immer unbehandelt. Dr. Stiller war unauffindbar gewesen. »Das können wir später machen«, hatte Eva gesagt, »Kommen Sie später wieder, wenn sich alles vielleicht irgendwie normalisiert hat.« Aber der Klang in ihrer Stimme hatte ihm verraten, dass auch sie nicht an eine Normalisierung glaubte.
Er hatte ein Glas Mineralwasser getrunken und damit die letzte Schmerztablette hinuntergespült. Danach war er auf dem Sofa eingeschlafen.
Gegen sieben wurde Joachim Beck von schweren Dieselmotoren geweckt. Aus der nahen Kaserne, in der die Jägerbataillone des deutsch-französischen Corps stationiert waren, rückten kleine Panzerfahrzeuge, Mannschaftsbusse und Sanitätswagen aus. Spät hatte sich die von allen Verbindungen abgeschnittene militärische Führung für den Einsatz entschieden, den sie auf Straßensperren und Pa-trouillen beschränken wollte. Martialisch Bewaffnete mit nutzlosen Funkgeräten an der Brust marschierten nun durch Donaueschingen, Gewehr im Anschlag, und weckten Beck.
Beck war von dem stechenden Schmerz in seiner Hand überwältigt. Es hämmerte in ihr und sie war gefährlich angeschwollen. Und er besaß in seiner Wohnung nichts, mit dem er die Schmerzen hätte unterdrücken können. Er hatte an Dr. Stiller gedacht und an die schwache Hoffnung, dass der Arzt noch auf seiner Station sein könnte. Er zog sich um und warf die
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