Raue See
blickte auf seine Uhr. Es war kurz nach fünf Uhr. Er nahm sich die Zeitung und blätterte direkt zum Sportteil. Es war gerade Europameisterschaft in Polen und der Ukraine, und fast ganz Deutschland befand sich im Ausnahmezustand. Heute, am Mittwoch, dem 13. Juni, stand das Spiel gegen die Niederlande an. Diese Begegnung war bei internationalen Turnieren immer etwas Besonderes für Deutsche wie Holländer gleichermaßen. Davon abgesehen dachte Zielkow – wie wohl alle Fußballfans –, dass das Erreichen des Finales bloße Formsache war. Also weg mit den Holländern. Das Läuten seines Telefons ließ ihn die Zeitung wieder beiseitelegen.
»Ja?«, brummte er ins Telefon. Das, was er hörte, ließ ihn augenblicklich hellwach werden. Unwillkürlich setzte er sich aufrecht hin. »Ich komme sofort. Und ich bringe den Doc mit«, sagte er und legte auf. Dann rief er Dr. Streicher in der Gerichtsmedizin an. Der war zwar nicht begeistert, so kurz vor Feierabend noch in eine Besprechung beordert zu werden, versprach aber zu kommen.
Zielkow griff sich sein über dem ledernen Chefsessel hängendes Jackett und lief zwei Stockwerke tiefer. Er öffnete die Tür zu dem Büro, auf dessen Türschild immer noch »Wiebke Sollich – Hauptkommissarin« stand. Er war ziemlich verärgert gewesen, als sie ihm kurz nach der Beförderung eröffnet hatte, sie sei jetzt schwanger und würde für zwei Jahre in die Elternzeit gehen. Aber in der heutigen Zeit durfte man ja nichts sagen. Und schon gar nicht als Mann. Ihren vorübergehend verwaisten Platz in der Mordkommission hatte Carsten Franck eingenommen. Ein junger Beamter im Rang eines Polizeikommissars, der mit seinen achtundzwanzig Jahren sicher noch überfordert war. Aber woher sollte er einen Beamten mit Erfahrung nehmen, der einen Job ausfüllen würde, den er in zwei Jahren wieder an eine Kollegin abtreten musste?
Carsten Franck hatte auf einem Beistelltisch einen Fernseher nebst DVD -Player aufgebaut. Er war blass, geradezu bleich. Nach dem, was er ihm am Telefon gesagt hatte, war das auch kein Wunder. Zielkow gab ihm die Hand.
»Kommt Dr. Streicher noch?«, fragte Franck.
Zielkow nickte. »Er ist auf dem Weg.«
»Das ist gut. Er kann uns vielleicht sagen, ob das echt ist.«
»Wir warten, bis er da ist«, sagte Zielkow, während er sich setzte.
Es dauerte ein paar Minuten, bis Dr. Streicher an die Tür klopfte und, ohne eine Antwort abzuwarten, in den Raum trat.
»Da bin ich«, sagte er. »Ich hoffe, es ist wichtig, denn meine Überstunden stellen inzwischen eine ernste Gefahr für meine Ehe dar.«
»Erzählen Sie ihm, was Sie mir am Telefon gesagt haben, Herr Franck«, forderte Zielkow.
»Also.« Carsten Franck räusperte sich. »Vor etwa zwei Stunden gab jemand diesen Umschlag beim Pförtner ab.« Er hielt einen stabilen Briefumschlag im DIN - A 4-Format in die Höhe. »Adressiert ist er an die Kollegin Sollich, die sich im Erziehungsurlaub befindet.«
»Beeindruckend«, knurrte Streicher, der immer noch nicht begriff, warum Zielkow ihm den Feierabend versaute.
»Nun werden Sie mal deutlich«, befahl Zielkow.
Carsten Franck zuckte zusammen. »Nun gut«, begann er. Zielkow hatte den Eindruck, als würde er sich für das, was er gleich sagen würde, vorab entschuldigen wollen. »Adressiert ist eigentlich auch der falsche Ausdruck. Lesen Sie doch bitte selbst, was auf dem Umschlag steht.«
Streicher nahm das Kuvert in die Hand und las: »An die blonde Schlampe, die im dritten Stock des Polizeipräsidiums in der Blücherstraße in Rostock die Mordkommission geleitet hat.«
»Das ist nicht nett«, sagte Streicher. »Aber dass Polizisten gelegentlich beleidigende Briefe bekommen, ist doch nicht ungewöhnlich.«
»Nein, sicher nicht«, bestätigte Franck. »Aber im Umschlag war ein Zettel mit einem Gedicht.«
»Gedicht? Was für ein Gedicht?«
»Lesen Sie es uns vor, Franck.«
Carsten Franck räusperte sich erneut.
»Ach, was muss man oft von bösen
Buben hören oder lesen.
Wie zum Beispiel hier von diesen,
Welche Max und Moritz hießen.
Auf den Pfaden dieser beiden
Woll’n wir uns an Qualen waiden
Und die Blonde sehen lassen,
Was Max und Moritz wirklich hassen.
Unser Spiel wird nun beginnen,
Daraus gibt es kein Entrinnen.
Holt sie her, die dumme Kuh,
Vorher geben wir nicht Ruh.
Aber es ist uns einerlei,
Was da tut die Polizei.
Wissen wir doch ganz genau:
Niemals fängt uns eine Frau.
Dieses ist der erste Streich,
Doch der zweite folgt
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