Raumschiff 5 - Carialle
stammten. Aliens? Konnte es sein, daß ihre Angreifer aus einem extrazentralen System stammten?
Als sie gerade zu der Überzeugung gelangt war, daß die Plünderer im Begriff standen, die Zuleitungen zu ihren Ernährungs-und Lufterneuerungssystemen zu kappen, endete das Kratzen abrupt. So plötzlich, wie der Angriff begonnen hatte, war Carialle wieder allein. Da sie begriff, daß sie hart an der Grenze zum Wahnsinn stand, zwang sie sich, zu zählen, dachte dabei an die Gestalt jeder Zahl, schmeckte sie, tat so, als würde sie sie fühlen und vor sich herschieben, sobald sie die nächste Zahl schmeckte und zu fühlen vorgab, dann die übernächste, und so weiter, und so fort. Sie hatte gar nicht gewußt, wie unterschiedlich Zahlen doch waren: jede ein eigenständiges Individuum, das sich auf vielfältigste Weise von allen anderen unterschied.
3 625 583 Sekunden später bemerkte ein wachsamer
Militärtransporter den Notpeilstrahl. Er nahm Carialles Schale in den Laderaum seines Fahrzeugs auf. Er tat, was er konnte, was bei einer Schalenperson der Ersten Hilfe entsprach – er stellte ihre Sehfähigkeit wieder her. Bis er Carialle zur nächstgelegenen Raumstation gebracht hatte, wo die Techniker ihr zu Hilfe eilten, war sie bereits von ihren eigenen Abfallstoffen durchsotten und konnte niemanden davon überzeugen, daß das, von dem sie so sicher war, daß es geschehen sein mußte – die Bergung und Ausplünderung ihrer Hülle durch Aliens – tatsächlich eine den wahren Vorgängen entsprechende Schilderung ihrer Erlebnisse darstellte. Es gab keinerlei Hinweis darauf, daß irgend etwas ihr Schiff nach dem Unfall angerührt hatte. Keiner der Schäden ließ sich auch nur theoretisch auf irgend etwas anderes als die Explosion und die Kollision mit umherwirbelndem Weltraummüll zurückführen.
Man zeigte Carialle die verbogene Metallscherbe, die als einziges von ihrem lebenserhaltenden System übriggeblieben war. Gerettet hatte sie nur die Tatsache, daß ein Ende durch die Explosionshitze zugeschmolzen war. Auf Grund der hohen Abfallstoffkonzentration in ihrem System gelangte man zu dem Schluß, daß es sich bei Carialles merkwürdigem Erlebnis um eine Halluzination gehandelt haben mußte. Carialle allein wußte, daß es keine Einbildung gewesen war. Dort draußen war irgend jemand gewesen. Ganz bestimmt!
Die Kindermärchen erwiesen sich glücklicherweise als haltlos. Carialle hatte die Strapaze überstanden, ohne dem Wahnsinn zu verfallen, obwohl die Sache natürlich ihren Preis hatte, bevor sie wieder völlig hergestellt war. Noch lange Zeit danach hatte Carialle Angst vor der Dunkelheit und flehte förmlich darum, nicht allein gelassen zu werden. Dr. Dray Perez-Como, der ihre Hauptbehandlung überwachte, teilte ihr eine ganze Truppe von Freiwilligen zu, die rund um die Uhr bei ihr blieben und sicherstellten, daß ihre optischen Sensoren allesamt und jederzeit Licht auffangen konnten. In Alpträumen ging sie immer wieder die Bergungsoperation durch, vernahm die Geräusche, als ihr Körper in Stücke gerissen wurde, während sie hilflos in der Finsternis vor sich hinschrie. Mit aller Macht ihres gewaltigen Geistes und ihrer Willenskraft bekämpfte sie die Depression; doch ohne Ablenkung, ohne etwas, das ihr Wachbewußtsein beschäftigte, neigte sie ständig zu Tagträumen, sobald sie sich nicht richtig konzentrierte.
Einer der Therapeuten riet Carialle dazu, ihr die qualvollen
›Sichtungen‹, die um die Vorherrschaft über ihren Verstand kämpften, durch Malerei aufs neue zu erschaffen. So lernte sie, mit Pinseln zu hantieren, Farben zu mischen. Zu Anfang stürzte sie sich auf die dunkelsten verfügbaren Farben und verteilte sie so dicht auf der Leinwand, daß kein Zentimeter mehr ›hell‹ blieb. Doch nach und nach, mit zunehmendem Fortschritt der wohltuenden, fürsorglichen und liebevollen Therapie traten auch Einzelheiten hervor: zunächst nur skizzenhaft, ein Klecks aus dunklen Schatten vielleicht, oder ein Hauch von Gelb. Wie es der detailversessenen, sorgfältigen Art aller Schalenmenschen entsprach, wurde ihr Werk
zunehmend plastischer; dann begann sie, mit Farbe, Charakter und Dimension zu experimentieren. Die Wirkung der Farbe begann Carialle selbst zu faszinieren, und so konzentrierte sie sich zunächst auf zarte Pastelltöne, die einer in den anderen übergingen, wobei sie manchmal nicht mehr als ein einziges feines Pinselhaar verwendete. In die technische Seite des Handwerks vertieft, machte sie die
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