Raumschiff 5 - Carialle
ein derartig hervorragendes Gedächtnis der reinste Fluch, zwang es Carialle doch dazu, die Ereignisse, die schließlich zu dem Unfall geführt hatten, immer wieder aufs neue zu analysieren. Und immer und immer wieder litt sie Qualen, wenn die gnadenlose und unaufhaltsame Ereigniskette sich in alter Kristallklarheit an die Oberfläche drängte – was während dieses lautlosen Flugs mehr als einmal geschah.
Vor sechzehn Jahren hatte sie im Auftrag des Kurierdienstes zusammen mit ihrem ersten Muskel, Fanine, insgeheim eine kleine Raumwerkstatt an der Peripherie des
Zentralweltenraums aufgesucht. Raumfahrer, die dort
haltgemacht hatten, hatten sich bei CenCom über Nepp beschwert. Riesige, manchmal ruinöse Summen für getätigte Käufe mit scheinbar makelloser elektronischer Dokumentation wurden den persönlichen Identifikationsnummern der
Reisenden belastet, manchmal erst Monate, nachdem sie SSS-267 verlassen hatten. Diskret hatte Fanine Beweismaterial für ein kompliziertes System der Nötigung, Bestechung und des Wuchers gesammelt und damit CenComs Verdacht bestätigen können. Sie hatten eine Nachricht des Inhalts abgesetzt, daß sie über beweiskräftige Einzelheiten verfügten und damit zurückkehren wollten.
Nie hatten sie mit Sabotage gerechnet, dabei hätten sie doch von selbst darauf kommen müssen… Carialle berichtigte sich selbst: Sie hätte darauf kommen müssen. Sie hätte genauer darauf achten müssen, was die Dockarbeiter bei der letzten Überprüfung anstellten, die sie ihr angedeihen ließen, bevor die CF-963 wieder startete. Carialle erinnerte sich noch genau daran, wie sich der in ihrem Tank ausbreitende Treibstoff angefühlt hatte: kalt, merkwürdig kalt, als wäre er in einem Vakuum gekühlt worden. Sie hätte diese Treibstoffladung verweigern können, hätte es auch tun sollen.
Auf dem Rückflug zu den Zentralwelten wurde der in der Masse aufgelöste Stoff vom restlichen Antriebsmittel in Latenz gehalten. Doch nach und nach hatten ihre Maschinen diesen Puffer verbraucht, bis sie schließlich auf die Verbindung am Boden ihrer Tanks zugegriffen hatten. Als schließlich mehr Sprengmittel als Treibstoff übrig gewesen war, hatte die Ladung ihre kritische Masse erreicht und sich entzündet.
Zwar hatten sich ihre Sensoren im Augenblick der Explosion sofort abgeschaltet, doch dieser Augenblick – 10:54:02.351 –
war in ihr Gedächtnis eingebrannt. Das war der Augenblick gewesen, da Fanines Leben endete und Carialle in die Dunkelheit hinausgeschleudert worden war.
Als erstes wurde sie der bitteren Kälte gewahr. Ihre Innentemperatur hätte konstant bei 37° C liegen müssen, die Kabinentemperatur bei ungefähr 21°. Carialle sandte einen Impuls aus, um die Wärme zu regulieren, doch er verfehlte sein Ziel. Die motorischen Funktionen waren irgendwie von ihr abgetrennt, unmittelbar außerhalb ihrer Reichweite. Sie fühlte sich, als wären alle ihre Gliedmaßen – bei einem Gehirnschiff hieß das: alle Motorsynapsen – und, was am schlimmsten war, ihre Sehfähigkeit amputiert worden. Sie war blind und hilflos. Nahezu ihre gesamten externen Systeme waren dahin, wenn man von einigen wenigen Laut-und
Hautsensoren absah. Geräuschlos hatte sie nach Fanine gerufen: ein Ruf, auf den sie nie Antwort erhalten sollte.
Am Anfang hatte der Schock die Angst noch gedämpft. Sie fühlte sich seltsam unbeteiligt, als würde ihr das alles gar nicht selbst widerfahren. Ungerührt ging sie durch, was sie wußte.
Es hatte eine Explosion gegeben. Die Hülle war dabei beschädigt worden. Sie konnte nicht mit Fanine
kommunizieren. Fanine war wahrscheinlich tot. Carialle verfügte über keine optische Wahrnehmungsapparatur mehr oder hatte keine Kontrolle mehr darüber, sollte diese Apparatur noch intakt sein. Die Unfähigkeit zu sehen war das Schlimmste daran. Wenn sie wenigstens sehen könnte, hätte sie die Lage einschätzen und zu einem objektiven Urteil gelangen können.
Nährmittelzufuhr und Luftumwälzung funktionierten, also hatte die Notstromversorgung überlebt, als die Schiffssysteme abgeschnitten wurden, und sie verfügte noch über ihren Vorrat an chemischen Verbindungen und Enzymen.
Die oberste Priorität hatte das Notsignal. Als Carialle sich durch das beschädigte Netz ihrer Synapsen tastete, fand sie die Verbindung für den Notpeilstrahl. Ohne zu wissen, ob er noch funktionstüchtig war oder nicht, aktivierte Carialle ihn; dann richtete sie sich in ihrer neuen Situation ein, um darob
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