Raumschiff der Generationen
man die vielen dünnen Röhrchen erkennen, aus denen er bestand. In ihnen befand sich Flüssigkeit.
Die Aufnahmeoptik erfaßte ein einzelnes Röhrchen und vergrößerte es, bis es die gesamte Breite der Bildwand einnahm. Die Flüssigkeit war dünn und blaß-grünlich. Sie bewegte sich. Die Strömung trieb sie manchmal eine Zeitlang nach oben, dann wieder nach unten. Zuweilen erschienen quallenähnliche Blasen, blähten sich auf und zerplatzten. Jedesmal sah es so aus, als ob die Flüssigkeit dann hin und her schwappte. Von unten kommend schoß ein roter Strahl durch das blasse Grün. Er stieß gegen eine der Blasenquellen und fiel, einer kleinen Fontäne gleich, wieder in sich selbst zurück …
»Das«, klang die mechanische Stimme auf, »sind wir – das Leben von Anlalluan …«
12.
Das Schweigen dehnte sich endlos. Die Männer und die Frauen in dem kleinen Raum starrten auf die grünliche Flüssigkeit. Das Leben von Anlalluan!
Deshalb also unterschieden die Fremden – oder sollte man besser sagen: das Fremde? – zwischen Lebendem und Leben, dachte Marc. Für jenes waren die Menschen vereinzeltes Leben, Individuen mit begrenzten Körpern, so wie es vor langen Zeiten selbst gewesen war. Das Leben von Anlalluan, das intelligente Leben hatte seine Individualität verloren. Von seiner Mobilität, seiner körperlichen Differenziertheit war nichts geblieben als eine blasse, grüne Flüssigkeit, die in Röhren hin und her schwappte, und die, um Intelligenz und Leben zu erhalten, von Maschinen versorgt werden mußte.
Wie, so fragte sich Marc, mochte diese Intelligenz überhaupt funktionieren? In dem flüssigen Ammoniak befanden sich gewiß zahlreiche Stoffe im gelösten Zustand. Sie bildeten unzählbar viele und verschiedenartige Moleküle, besonders Makromoleküle. Und diese unendlich große Vielfalt an molekularen Bildungsmöglichkeiten mußte es dem »Organismus« irgendwie ermöglicht haben, die Gemeinschaftsintelligenz und damit das Gesamtbewußtsein zu erhalten. Welche atomaren Konfigurationen notwendig waren, um eine geistige Kommunikation aufrechtzuerhalten und auf welche Weise dies geschah, würde jedoch vermutlich für immer ein Geheimnis dieser Lebensform bleiben.
»Wir wollen sie ›Liquiden‹ nennen«, sagte Thoralf plötzlich halblaut. Die anderen sahen ihn an. Dann wandte der Senator sich wieder der Bildwand zu.
»Und was sollen wir für euch tun?«
Die Stimme antwortete:
»Die Botschaft, die ihr unserer Sonde entnommen habt, hat euch einen Hinweis hierüber gegeben. Wir hoffen, ihr habt die Botschaft richtig verstanden?«
»Was den Zyklus des Seins betrifft, ja«, antwortete Thoralf. »Aus der Ganzheit des Seins entsteht durch Vereinzelung Materie. Aus Materie entsteht Leben. Dieses entwickelt Intelligenz, das heißt Bewußtsein. Das Bewußtsein erreicht schließlich die Stufe der Manipulation sowohl geistiger wie auch körperlicher Art. Eurer Lehre nach – soweit glaube ich, euch verstanden zu haben – kann, ja sollte eine intelligente Rasse, die diese Stufe erreicht hat, ihre Kräfte dazu benutzen, die Wiedervereinigung mit der Ganzheit des Seins anzustreben. Dies war mit dem ›Ersten Kreis‹ gemeint. Ein religiöser Mensch würde es die ›Rückkehr in Gott‹ nennen.
Nun«, fuhr Thoralf bedächtig fort, »was den ›Zweiten Kreis‹ betrifft, auch wir Menschen glauben, daß sich durch den Tod des Individuums seine Wiedervereinigung mit dem All-Sein vollzieht. Warum aber sollte eine intelligente Rasse versuchen, diesen Vorgang künstlich zu beschleunigen. Ich glaube nicht, daß es im Sinne der Seins-Entwicklung liegt, diese Entwicklung abzukürzen oder sie gar aufzuhalten. Ich denke vielmehr, daß das Leben, das intelligente Leben also, alle Kräfte, die sich in ihm entfalten, zur Weiter- und Mitgestaltung des Universums einsetzen sollte …«
»Wir können nicht etwas beschleunigen, was uns nicht mehr gegeben ist«, bemerkte die fremde Stimme. »Als unsere Vorfahren den verhängnisvollen Schritt taten, der die Individuen von Anlalluan zum Gemeinschaftsleben verwandelte, besiegelten sie damit das Ende unserer Rasse. Von da an hatten wir keine Möglichkeit mehr zur Rückkehr zum ungeteilten Sein.«
Allmählich begann Thoralf zu verstehen, was die Liquiden meinten. Um sie zu begreifen, mußte man versuchen, von den durch die eigene Mentalität bedingten Denkschemata loszukommen. Für die Fremden bedeutete der Tod nur eine Zwischenstation. Nicht nur das! (Dieser Gedanke allein
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