Raus aus dem Schneckenhaus
neueren Studien sogar über 50 Prozent »schüchtern« sein – was immer dies heißt, denn die Befragten (meist Studierende) mussten sich selbst ohne nähere Erläuterung beurteilen. Über 90 Prozent der US-Amerikaner waren laut eigenen Aussagen zumindest irgendwann einmal in ihrem Leben schüchtern. Knapp zwei Drittel der Betroffenen erleben ihre Schüchternheit als Problem und würden sie gerne überwinden, wenn sie wüssten wie. In Frankreich bezeichnen sich 60 Prozent der Bevölkerung als schüchtern, 51 Prozent als ein bisschen und 7 Prozent als sehr schüchtern. In Kanada halten sich 61 Prozent der Befragten für »zumindest etwas schüchtern«. Nach einer neueren deutschen Studie bei 12- bis 25-Jährigen trifft die Aussage, dass sie schüchtern und gehemmt seien, auf 20 Prozent eher und auf 3 Prozent voll und ganz zu.
Krankhafte soziale Ängste im Sinne einer sozialen Phobie treten in den USA bei 12 Prozent der Bevölkerung irgendwann im Laufe des Lebens auf. 7–8 Prozent der Bevölkerung wiesen im letzten Lebensjahr eine soziale Phobie auf. Insgesamt kann man für Europa feststellen: Knapp jeder Zehnte leidet eine Zeit lang in seinem Leben unter einer Sozialphobie. Sie ist die häufigste Angststörung und nach Depressionen und Alkoholproblemen die dritthäufigste psychische Störung überhaupt. Rund zwei Drittel der Betroffenen leiden unter der schwereren Form der sozialen Phobie, nämlich der generalisierten Sozialphobie oder sozialen Angststörung.
Etwas mehr als die Hälfte der Menschen mit einer sozialen Phobie sind Frauen. Das Verhältnis Frauen zu Männern beträgt 3:2 – zumindest geben weibliche Befragte ihre Ängste bei Interviews eher zu als männliche Betroffene, die sich des Ausmaßes ihrer Phobie oft gar nicht bewusst sind, auch weil es dem gängigen Geschlechtsrollenklischee widerspricht. Männer sollen in unserer Gesellschaft noch weniger als Frauen schüchtern oder sozial ängstlich sein. In Behandlungseinrichtungen sind sozialphobische Frauen und Männer allerdings gleich häufig vertreten.
Krankhafte soziale Ängste nehmen vor allem bei der jüngeren Bevölkerung dramatisch zu, was durch den ansteigenden Druck in der westlichen Leistungsgesellschaft bedingt ist. Die Ängste beginnen immer früher und weisen einen immer höheren Schweregrad auf. Bei drei Viertel der Betroffenen setzen soziale Phobien vor dem 16. Lebensjahr ein und damit früher als eine Panikstörung, eine generalisierte Angststörung oder eine Platzangst. Je früher eine soziale Phobie auftritt, desto eher entwickelt sich die schwerwiegendere Form der generalisierten Sozialphobie, die durchschnittlich mit 10–13 Jahren beginnt.
Soziale Ängste entwickeln sich häufig zu Beginn der Pubertät, was verständlich ist. Jugendliche fragen sich zunehmend: »Wer bin ich? Wodurch unterscheide ich mich von anderen? Wie sehen mich die anderen? Wie komme ich an?« Dass eine Sozialphobie erstmals nach dem 25. Lebensjahr auftritt, ist eher selten. Es kommt vor allem bei einer spezifischen Sozialphobie vor, wenn die Betroffenen bereits erfolgreich Leistungen erbringen, einen sozialen Aufstieg geschafft haben und damit in eine Position gelangt sind, in der sie im Mittelpunkt stehen. Als Folge einer sichtbaren körperlichen Erkrankung, die zu einem unangenehmen Angestarrt-Werden führt, kann sich auch eine sogenannte sekundäre soziale Phobie entwickeln.
Soziale Phobien verschwinden selten ohne fachgerechte Behandlung. Nur bei jedem dritten Patienten erfolgt im Laufe der Jahre eine Spontanheilung. Rückfälle sind häufig und kommen etwa bei einem Drittel der zunächst erfolgreich Behandelten vor. Bei Personen mit einer generalisierten Sozialphobie bewirken Therapien viel seltener eine vollständige Heilung. Vor allem bei Sozialphobikern mit Mehrfacherkrankung ist eine längere und intensive Behandlung nötig. Ohne Behandlung nehmen soziale Phobien und soziale Angststörungen eher einen chronischeren Verlauf als Depressionen oder andere Angststörungen. Dies gilt vor allem für die generalisierte Sozialphobie, die oft von klein auf mit sozialen Defiziten verbunden ist.
Obwohl sie unter erheblicher Belastung leiden, machen die meisten Menschen mit sozialen Ängsten und Phobien erst viel später eine Psychotherapie als Patienten mit anderen psychischen Störungen. Sie begeben sich – wenn überhaupt – oft erst nach Jahrzehnten in Behandlung, und dann vor allem wegen verschiedener Folgeprobleme wie etwa Panikattacken, Alkohol- oder
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