Raus aus dem Schneckenhaus
biologischer Sicht durchaus sinnvoll, bis Kinder mit zunehmender Erfahrung eine realistische Einschätzung ihrer Interaktionspartner erlernen.
Viele von uns kennen die folgenden Erfahrungen in sozialen Situationen: Wir flüchten vor Belastungen, wenn wir sie nicht mehr aushalten. Wir sind ständig »auf dem Sprung«, um bei Bedarf jederzeit einer peinlichen Blamage entkommen zu können, und sind daher dauerhaft verspannt. Jede Flucht und Vermeidung verstärkt unsere Überzeugung, dass wir die jeweiligen sozialen Anforderungen nicht erfolgreich hätten bewältigen können. Manchmal fühlen wir uns vor Schreck wie gelähmt, der jeweiligen Situation hilflos, geradezu ohnmächtig ausgeliefert, und unterliegen einer totalen Verhaltensblockade. In Prüfungssituationen bekommen wir dann einen Blackout: Angst und Erregung blockieren unser Gedächtnis vorübergehend so stark, dass uns nichts mehr von dem einfällt, was wir gelernt haben.
Übererregbarkeit der Angstschaltkreise im Gehirn
Alle psychischen Vorgänge werden durch Prozesse im Gehirn gesteuert. Das gilt auch für die Emotionen. Bei Menschen mit ausgeprägten sozialen Ängsten lässt sich bereits in sozialen Situationen mit geringem Bedrohungspotenzial eine Übererregbarkeit der neuronalen Angstschaltkreise im Gehirn feststellen: Die Angstsensoren im Gehirn sind gleichsam zu scharf eingestellt, d. h. die zuständigen Bereiche des Gehirns reagieren zu schnell und sensibel auf vermeintlich bedrohliche innere Reize (Gedanken, Erinnerungen, Bilder, Vorstellungen) oder äußere Reize (andere Personen oder bestimmte Umweltsituationen). Bei jeder Phobie erfolgt eine extrem rasche körperliche Reaktion auf den phobischen Reiz oder dessen bloße Vorstellung in der Fantasie – und bei Sozialphobikern sind dies eben Menschen. Eine wissenschaftliche Studie hat gezeigt: Sozialphobiker sind hypersensibel für feindselig wirkende Gesichter. Auf subjektiv bedrohliche Personen reagieren sie schneller als andere Menschen mit körperlicher und geistiger Alarmierung.
Emotionen haben ihren Sitz in den ältesten Bereichen des Gehirns, dem limbischen System oder emotionalen Hirn. Hier sind verschiedene Regionen bedeutsam, die schneller reagieren als die bewussten Wahrnehmungs- und Verstandeszentren. Angst entsteht in den sogenannten Mandelkernen (Fachausdruck: Amygdalae ), vermittelt über das emotionale Gedächtnis im benachbarten Hippocampus , der unsere Lebenserfahrungen mit den damit verbundenen Gefühlen festhält und alle neuen Erlebnisse damit abgleicht. Wann immer eine Situation bedrohlich erscheint, löst der Hippocampus im linken und rechten Mandelkern automatisch eine Angstreaktion aus. Auch alle Angst machenden Gedanken und Bewertungen im denkenden Hirn, der vorderen Gehirnrinde (präfrontaler Kortex), wirken auf die beiden Mandelkerne ein. Doch sehen wir es positiv: In diesem jüngsten Gehirnbereich haben auch die angstregulierenden Fähigkeiten des Menschen ihren Sitz.
Die Kommunikation zwischen den verschiedenen Regionen des limbischen Systems einerseits und dem präfrontalen Kortex (hinter der Stirn) andererseits bestimmt, ob es einen konstruktiven bzw. destruktiven Umgang mit Ängsten gibt. Abgespeicherte positive Erfahrungen im Hippocampus und neue Bewertungsmuster im präfrontalen Kortex, wie sie sowohl durch erfolgreiche Eigenbemühungen als auch durch Psychotherapie ermöglicht werden, bewirken eine gewisse Kontrolle über den ungestümen Mandelkern – allerdings erst mit einiger Verzögerung. Das ist die Tragik bei sozialphobischen Personen: Sie können die ersten spontan auftretenden körperlichen Reaktionen nicht tolerieren, sondern kämpfen aus Angst vor Auffälligkeit ständig dagegen an und verstricken sich dadurch immer mehr in den Teufelskreis der Angst. Doch wir müssen damit leben lernen, dass unser biologisch gesteuertes Angstsystem anfangs oft stärker ist als alle Vernunft und Willensanstrengung. Gerade für sehr verstandesbetonte Menschen ist es eine deprimierende Erfahrung, dass sich gut gemeinte Ratschläge und Ermutigungen von Freunden, Ärzten und Psychotherapeuten nicht so einfach umsetzen lassen.
Aufgrund der angsthemmenden Wirkung verschiedener Psychopharmaka, vor allem der Antidepressiva aus der Gruppe der sogenannten Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, hat man geschlossen, dass auch bestimmte Botenstoffe des Gehirns, wie etwa Serotonin , zur Entwicklung von Ängsten wesentlich beitragen. Ihre genaue Funktion bei sozialen Ängsten ist jedoch
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