Raven - Schattenreiter (6 Romane)
wünscht.
Aber natürlich war das Unsinn. Die Vorstellung, jeden Morgen um die gleiche Zeit in ein muffiges Büro zu gehen, acht Stunden lang eine stumpfsinnige Arbeit zu tun und jeden Tag um die gleiche Zeit zurückzugehen, erschien ihm fast lächerlich. Er würde mit einem solchen Leben einfach nicht glücklich sein. Ganz davon abgesehen, dass Janice es nicht zulassen würde. Trotz aller Entbehrungen stand sie immer voll hinter ihm. Das war ja gerade das Schlimme. Es wäre einfacher gewesen, wenn sie ihm Vorwürfe gemacht hätte. Mit jemandem, der nörgelt, konnte man fertig werden.
Er warf die Zeitung in die Ecke, stand auf und ging zum Fenster hinüber. Die Pension lag auf einer Anhöhe, sodass der Blick über die Dünen ungehindert zum Meer schweifen konnte. Die Sonne war vollends untergegangen, und der Ozean lag wie ein riesiger glatter Spiegel vor ihm.
Plötzlich hatte Raven das Gefühl, als ob eine eiskalte, körperlose Hand nach ihm griffe. Mit einem Mal spürte er die Bedrohung, die stumme, körperlose Gefahr, die auf ihn zukam.
Er schüttelte den Kopf, grunzte ärgerlich und ging zum Kamin zurück. Es hatte keinen Sinn, sich selbst verrückt zu machen. Seine ganze äußere Lage nagte an ihm, an seiner Widerstandskraft und an seiner Seele. Es war kein Wunder, wenn er von Zeit zu Zeit Depressionen bekam.
Oder war es Angst?
Aber wenn ja, wovor?
Das Meer war an diesem Abend ungewöhnlich ruhig. Trotz des böigen Windes bewegte sich die Wasseroberfläche kaum. Der Wind schien dicht über der grauen, glitzernden Fläche dahinzugleiten, ohne das Wasser wirklich zu berühren. Es war, als hätte jemand eine gläserne Schutzschicht über den Kanal ausgebreitet.
»Woran denkst du?«, fragte Sue.
Frank Calamis drehte sich vom Ruder weg, schüttelte den Kopf und lächelte. »An nichts. An nichts Wichtiges jedenfalls.« Er betrachtete Sues Haare, die von der untergehenden Sonne in Flammen getaucht zu werden schienen. Die junge Frau wirkte trotz des wenig kleidsamen Regenmantels und der um drei Nummern zu großen Stiefel, die sie angezogen hatte, immer noch attraktiv.
»Sag es mir trotzdem.«
Frank zuckte mit den Schultern. »Das Meer ist so ruhig«, murmelte er. »Eigentlich schon fast zu ruhig.«
Zwischen Sues Augen erschien eine steile Falte. »Du machst dir Sorgen?«
»Warum sollte ich?«
Sue lachte. »Du bist der Seebär, nicht ich. Ich verstehe von Booten nur so viel, dass sie schwimmen, und vom Meer gerade genug, um zu wissen, dass es nass ist.« Sie lachte leise. »Vielleicht gibt es Sturm.«
Frank legte den Kopf in den Nacken und blinzelte in den Himmel. »Kaum«, sagte er. »Das da oben sind Regenwolken, mehr nicht.«
»Aber ich dachte, vor einem Sturm tritt immer eine solche Ruhe ein.«
Frank lachte. »Manche von euch Landratten haben eine seltsame Vorstellung vom Meer. Das mit der Ruhe vor dem Sturm stimmt zwar - aber hier im Englischen Kanal ...« Er brach ab. »Ich fahre jetzt seit fast zwanzig Jahren kreuz und quer über den Kanal, aber ich habe noch nie erlebt, dass das Wasser so ruhig ist.« Er deutete mit dem ausgestreckten Arm nach unten. »Keine Wellen, siehst du?«
Sue blickte eine Weile konzentriert in die Richtung, in die er wies, und nickte dann. »Und was bedeutet das?«
Frank zuckte abermals mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Aber es gefällt mir nicht. Ich habe so etwas noch nicht erlebt.«
Ein eisiger Windstoß fuhr von Westen her über das Meer, brachte eine Welle klammer Feuchtigkeit und den Geruch von Salzwasser und Chemikalien mit sich und ließ sie beide frösteln.
»Vielleicht ist das der Grund für die ruhige See«, murmelte Sue mit einer Kopfbewegung nach Westen.
Frank runzelte die Stirn. »Was?«
»Dieser Gestank. Er riecht, als hätten sie ein ganzes Chemiewerk ins Meer geworfen.«
Frank antwortete nicht. Vermutlich hatte Sue Recht. In letzter Zeit wurde das Meer mehr und mehr zum Abfallbehälter. Vielleicht hatte irgendeiner der Riesentanker, die den Kanal durchquerten, Ballast abgelassen oder seine Tanks auf diese billige Weise gesäubert. Irgendwann, das wusste Frank, würden sie das Meer völlig vergiften. Der Ozean mochte gigantisch sein, aber auch seine Fähigkeiten, sich selbst zu reinigen, waren begrenzt.
»Ich glaube, ich ...« Sue brach plötzlich ab. Ihre Augen weiteten sich erstaunt.
»Was ist das?«, murmelte sie leise.
Frank drehte überrascht den Kopf. »Was?«
»Das dort - im Osten!«
Frank starrte angestrengt in die Richtung, in die
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