Raven - Schattenreiter (6 Romane)
Klinge des anderen bohrte sich Millimeter neben seinem Kopf in den hartgebackenen Sand.
Eine seltsame, prickelnde Erregung machte sich in Charbadan breit. Er hatte überhaupt keine Angst. Er wusste, dass er gegen einen Feind kämpfte, der ihm haushoch überlegen war, aber seltsamerweise störte ihn das nicht. Im Gegenteil. Das Brodeln in ihm wurde mit jedem Augenblick stärker.
Blutgier!, dachte er entsetzt.
Alles in ihm fieberte danach, den anderen zu töten.
Der Schattenreiter lachte schrill.
»Ja, Charbadan, ja! Kämpfe! Töte! Töte mich! Du bist schon einer der unseren, auch wenn du es noch nicht weißt!«
Er drang wieder auf Charbadan ein. Aber seine Hiebe waren jetzt nicht mehr wirklich gefährlich. Charbadan spürte, wie irgendetwas, von dessen Existenz er bis zu diesem Moment noch nichts gewusst hatte, in ihm zu bösem, mörderischem Leben erwachte. Er schlug zu, parierte, wich zurück und griff seinerseits an. Sein Körper schien sich ebenfalls in einen wirbelnden, huschenden Schatten zu verwandeln.
Schließlich, nach Stunden, wie es ihm vorkam, hörte es auf. Der Schattenreiter wich überraschend zur Seite aus, ließ Charbadan an sich vorbeistolpern und rammte ihm den Säbel in den Rücken.
Der Schlag schleuderte Charbadan zu Boden. Er fiel hin, verlor die Waffe und blieb reglos liegen.
Er spürte keinen Schmerz. Eigentlich spürte er überhaupt nichts. Aus der Wunde in seinem Rücken pulsierte das Leben in schnellen roten Stößen hervor, aber nicht einmal das bemerkte er.
Er wusste, dass er jetzt starb.
Starb?
Nein. Er starb nicht. Sein Körper starb, aber er selbst existierte weiter.
»Komm, Charbadan!«, wisperte eine Stimme in seinem Kopf. »Komm zu uns!«
Charbadan erhob sich. Er sah plötzlich seinen eigenen Körper, ein regloses, tödlich verwundetes Bündel, das im Sand verblutete, aber er spürte auch, wie er selbst aufstand und langsam zu den Schattenreitern hinüberging.
Einer der Reiter machte eine stumme, befehlende Geste, und in der Höhlenöffnung am Berg erschien ein einzelnes, reiterloses Pferd. Charbadan wartete, bis das Tier den Hang heruntergaloppiert war und neben ihm stehen blieb.
»Steig auf!«
Er gehorchte. Seine Hände bewegten sich wie von selbst, als er nach dem Sattelknauf griff und sich mit einer schwungvollen Bewegung hinaufzog. Das Tier wieherte unruhig, aber ein scharfer Befehl brachte es zum Schweigen.
Die Gruppe setzte sich in Bewegung. Die Pferdehufe hämmerten metallisch auf dem Boden und erzeugten ein geisterhaftes Echo zwischen den steil aufragenden Felsen.
Dann kehrte wieder Ruhe ein.
Aber diesmal war es das Schweigen des Todes.
Trotz der bereits fortgeschrittenen Jahreszeit waren die Abende noch warm. Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, aber es wurde trotzdem nicht richtig dunkel. Der Himmel hatte sich mit Grau überzogen. Schwere, bauchige Regenwolken schoben sich von Westen her über den Horizont, und die Sonne war zu einer gelbroten Halbkugel geworden, die im Westen mit dem Ozean verschmolz und das Meer in Streifen von flüssigem Gold färbte.
Ein sanfter, böiger Wind wehte über den Strand, spielte raschelnd mit Papier und trockenem Laub und versuchte vergeblich, durch die schützenden Regenjacken zu dringen, in die Raven und Janice sich gehüllt hatten.
»Eigentlich schade, dass wir morgen schon zurückmüssen«, murmelte Janice. Sie kuschelte sich eng an seine Schulter und seufzte. »Können wir nicht noch eine Woche dranhängen?«
Raven schüttelte den Kopf. Er hatte keine Lust zu reden. Die seltsame Stimmung, die die untergehende Sonne und die treibenden Regenwolken herbeigezaubert hatten, hatte auch auf ihn übergegriffen - eine Mischung aus wohliger Erschöpfung und Melancholie. Er hatte einfach keine Lust, jetzt schon wieder an zu Hause zu denken. Sein Apartment lag kaum zweihundert Meilen von hier entfernt, und doch hatte er das Gefühl, als ob ihn Welten von der lauten, hektischen Atmosphäre Londons trennten.
Es war ihr erster gemeinsamer Urlaub - der erste Urlaub, den er überhaupt machte, seit er seine kleine Privatdetektei in London eröffnet hatte -, und er hatte absolut keine Lust, ihn sich durch Gedanken an Arbeit und das tägliche Einerlei verderben zu lassen.
»Wenn du willst, bezahle ich die Anschlusswoche«, sagte Janice sanft.
Raven schüttelte unmerklich den Kopf. »Vergiss es! Das Zimmer ist wahrscheinlich schon längst wieder vermietet.«
»Ich könnte wenigstens fragen. Außerdem gibt es noch andere
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