Raven - Schattenreiter (6 Romane)
erreichten den Parkplatz. Janice fummelte eine Weile am Türschloss herum, setzte sich dann hinter das Steuer und stieß die Beifahrertür auf.
Raven stieg schwerfällig in den Wagen. Ein Schwindelgefühl erfasste ihn, und er schloss für einen Moment die Augen, während Janice den Motor anließ und den Wagen vorsichtig auf die Straße hinauslenkte.
»Ist dir übel?«, fragte Janice.
»Nein.« Raven schüttelte den Kopf und bedauerte die hastige Bewegung sofort wieder, weil jetzt wirklich eine Welle der Übelkeit in ihm emporstieg. Aber er drängte das Gefühl zurück und zwang sich, die Augen zu öffnen.
»Sag früh genug Bescheid, wenn dir schlecht wird«, sagte Janice trocken. »Der Wagen ist nur gemietet, denk daran!«
Raven lächelte gequält. Janice hatte manchmal einen recht makabren Humor. »Es geht schon«, sagte er mühsam. »Ich muss mich nur fünf Minuten entspannen.«
Janice schaltete in einen höheren Gang und gab Gas. Die Straße war um diese Uhrzeit wie ausgestorben. Und sie war stockfinster. Es gab keine Laternen, und die schmale Mondsichel, die nur manchmal hinter treibenden Wolken zum Vorschein kam, spendete so gut wie kein Licht.
Raven kurbelte das Seitenfenster herunter und hielt das Gesicht in den Fahrtwind. Die Luft roch nach Salzwasser und Regen.
»Gut, dass wir morgen zurückfahren«, sagte er. »Das Wetter scheint umzuschlagen.«
»Natürlich. Ich freue mich auch schon auf den Londoner Sonnenschein. Lange Spaziergänge am einsamen Times Square, die Beschaulichkeit des Hafenviertels und ab und zu ein netter Besuch vom Gerichtsvollzieher ...«
Raven drehte den Kopf und sah Janice vorwurfsvoll an. »Du bist ganz schön bissig heute«, sagte er ruhig.
Janice lachte humorlos. »Ich bin nicht verbittert, wenn du das meinst.« Sie trat plötzlich auf die Bremse, brachte den Wagen zum Stehen und schaltete den Motor aus. »Es reicht mir nur.«
Raven zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Wie - meinst du das?«
»So, wie ich es sage«, antwortete Janice. »Es langt. Seit Jahren sehe ich jetzt zu, wie du dich selbst kaputtmachst. Ich mache das nicht mehr mit. Dein verdammter Stolz wird dich noch umbringen. Und mich dazu.« Sie schüttelte den Kopf und zog eine Grimasse. »Ich weiß ja, dass es deinen männlichen Stolz erschüttern wird, aber ich bin zu einem Entschluss gelangt. Und du brauchst dich gar nicht anzustrengen, mich davon wieder abzubringen.«
»Und wie sieht dieser Entschluss aus?«, fragte Raven leise.
»Ich werde mir einen Job suchen«, erklärte Janice. »Sowie wir wieder in London sind, gehe ich zu einer Stellenvermittlung.«
»Aber ...«
»Sei bitte ruhig, Raven! Es nützt gar nichts, wenn du dich aufregst. Ich weiß, dass du dir in den Kopf gesetzt hast, für mich zu sorgen. Und ich bin sicher, dass du es schaffen wirst. Aber ich weiß auch, dass du einfach nicht dafür geboren bist, irgendeinen Bürojob zu übernehmen. Ich will, dass du dich voll und ganz deinem Beruf widmen kannst. Ich kann genauso gut arbeiten und ein paar Pfund verdienen wie Millionen anderer Frauen auch. Und du brauchst deine Zeit dann nicht mehr damit zu verschwenden, Gläubiger und Gerichtsvollzieher abzuschütteln. Darin bist du ja Meister«, fügte sie spöttisch hinzu.
Raven senkte betroffen den Blick. Er hatte die ganze Zeit über gespürt, dass irgendetwas passieren würde. Er hatte auch gewusst, dass Janice das Leben, das sie führten, nicht mehr lange ertragen würde, dass irgendeine Reaktion kommen würde. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass diese Reaktion so aussehen würde.
»Ich ...«, begann er unsicher. »Ich weiß, dass du ...«
»Sag jetzt nichts, Raven«, flüsterte Janice. »Denk eine Nacht darüber nach! Du wirst sehen, dass ich Recht habe.«
Raven schnaubte erregt. Der Alkohol lähmte noch immer seine Zunge und machte es ihm fast unmöglich, das, was er dachte, mit dem, was er sagen wollte, richtig zu koordinieren. Aber er versuchte es.
»Du bist ausgesprochen unfair«, sagte er langsam. »Um nicht zu sagen, gemein.«
In Janice' Augen blitzte es auf. Aber ihre Stimme klang ruhig, als sie antwortete. »So? Findest du?«
Raven nickte. »Ja, das finde ich. Du hast dir diesen Augenblick ganz bewusst ausgesucht, weil ich betrunken bin. Du weißt, dass ich dann hilflos bin. Aber du hast dich getäuscht. Ich kann immerhin noch denken.«
»Anscheinend nicht«, fuhr Janice auf, »sonst würdest du einsehen ...«
»Ich sehe überhaupt nichts ein!«, brüllte Raven.
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