Raven - Schattenreiter (6 Romane)
Seine Laune besserte sich um mehrere Grad, als er sah, dass die Türen nicht verriegelt waren. Einfacher konnten sie es ihm eigentlich nicht machen.
Er umrundete das Fahrzeug einmal, blinzelte misstrauisch die Straße zum Dorf hinauf und schwang sich dann mit einer entschlossenen Bewegung auf den Beifahrersitz. Die Innenbeleuchtung flammte auf und tauchte den Wagen in gelbes, schattiges Licht.
Das Handschuhfach war offen, aber es enthielt nicht viel, was er brauchen konnte. Einen billigen Kugelschreiber, ein Paket Papiertaschentücher und einen zerknitterten Reiseprospekt. Tabett ließ die Sachen dort liegen. Jeder dieser Gegenstände konnte ihn verraten. Er war auf andere Beute aus. Und er war ziemlich sicher, dass er etwas finden würde. Er hatte die beiden beobachtet.
Sie hatten sich ziemlich heftig gestritten, das war sogar von seinem Versteck aus gut zu erkennen gewesen, und jemand, der wie die Kleine Hals über Kopf davonrennt, nimmt nicht erst seine Handtasche mit.
Die Innenbeleuchtung erlosch, als er die Tür hinter sich zuzog. Tabett zog eine Taschenlampe aus der Jacke, schirmte den Reflektor mit der Hand ab, sodass das Licht draußen nicht sichtbar war, und ließ den kleinen weißen Kreis über Sitze und Polster gleiten. Nach wenigen Augenblicken hatte er gefunden, wonach er suchte.
Ein zufriedenes Grinsen huschte über sein Gesicht, als er nach der Handtasche griff. Sie enthielt das übliche Durcheinander, das in jeder Frauentasche zu finden war. Aber daneben auch eine Geldbörse mit siebzig Pfund in Banknoten und einer Handvoll Kleingeld und ein schmales Lederetui mit Visitenkarten.
»RAVEN - Privatdetektei«, stand in einfachen, modernen Lettern darauf.
Tabett grinste. Die Vorstellung, gerade einen Schnüffler zu beklauen, erheiterte ihn ungemein.
Er ließ das Geld in seiner Tasche verschwinden, legte das Portemonnaie in die Handtasche zurück und warf beides achtlos auf den Boden. Dann setzte er seine Inspektion fort.
Bis auf die Handtasche fand er nichts, was sich zu stehlen gelohnt hätte. Aber er entdeckte etwas Anderes: Die Zündschlüssel steckten.
Tabett überlegte einen Moment. Natürlich konnte er den Wagen nicht verkaufen. Die Insel war einfach nicht groß genug, um einen gestohlenen Mietwagen absetzen zu können. Aber er konnte immerhin eine kleine Spritztour unternehmen.
Er knipste die Taschenlampe aus, rutschte auf den Fahrersitz hinüber und ließ den Motor an. Der Lärm schien überlaut durch die Nacht zu dröhnen.
Tabett schaltete die großen Halogenscheinwerfer ein, betrachtete einen Moment lang die verschiedenen Hebel und Bedienungsinstrumente des Armaturenpults und fuhr dann vorsichtig an. Trotzdem drehten die Räder auf dem lockeren Untergrund des Randstreifens durch. Er jonglierte behutsam mit Kupplung und Gaspedal, lenkte den Rover auf die Straße und fuhr los. Die Scheinwerfer schnitten zwei grelle, asymmetrische Breschen in die Dunkelheit.
Irgendwie war Tabett nicht wohl bei der ganzen Sache. Er war gewiss kein unschuldiger Chorknabe, und seine Hände waren fast öfter in anderer Leute Taschen als in seinen eigenen, aber er fand die Idee, mit einem gestohlenen Wagen durch die Gegend zu kutschieren, plötzlich gar nicht mehr so gut. Außerdem fühlte er sich beobachtet.
Es war ein widersinniges, dummes Gefühl, aber es war trotzdem da. Obwohl die Straße vollkommen leer war, hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden.
Er sah nervös in den Innenspiegel, warf einen hastigen Blick über die Schulter zurück und schielte dann zum Beifahrersitz, als müsse er sich davon überzeugen, wirklich allein im Wagen zu sein.
Tabett fuhr sich nervös mit der Hand über die Augen. Die Straße schien vor ihm zu verschwimmen. Dunkle, umrisslose Schatten wogten im Lichtkegel der Scheinwerfer auf und ab, und irgendwo am Rande seines Gesichtsfeldes war eine huschende, kaum wahrnehmbare Bewegung.
Er hielt an, stöhnte leise und ließ den Kopf auf das Lenkrad sinken.
Irgendetwas war mit ihm nicht in Ordnung.
Vielleicht bin ich krank, versuchte er sich einzureden. Vielleicht hatte er Fieber und begann bereits zu fantasieren. Das Beste wäre, den Wagen stehen zu lassen und auf dem kürzesten Weg ins Dorf zurückzukehren.
Er richtete sich auf, drehte den Zündschlüssel herum und wollte die Tür öffnen. Aber seine Hand erstarrte auf halbem Weg. Die Vorstellung, aus dem schützenden Wagen in die Dunkelheit hinauszutreten, erfüllte ihn auf unerklärliche Weise mit Entsetzen.
Seine
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