Raven - Schattenreiter (6 Romane)
Jacht. »Wenn du auch nur zehn Sekunden hinsehen könntest, statt sinnlos zu brüllen, würdest du merken, dass hier etwas stinkt. Sieh dir den Kahn doch an!«
McCearn verstummte schuldbewusst. Er blinzelte einen Augenblick lang zur Jacht hinüber und nickte schließlich. »Du hast Recht. Der Kerl am Ruder hat keine Ahnung, wie man ein Boot fährt. Sieh dir bloß den Kurs an! Wenn der so weiterfährt, kommt er frühestens in Brasilien wieder an Land.«
»Vielleicht ist etwas passiert«, vermutete Parwanner. »Ein Unfall oder so was.«
McCearn hob die Schultern. »Er hätte mich fast gerammt, das ist passiert.«
Parwanner überlegte.
»Kannst du die Jacht einholen?«, fragte er.
McCearn blinzelte verblüfft. »Warum?«
»Warum? Warum?«, ereiferte sich Parwanner. »Du bist mir ein schöner Seemann. Vielleicht sind dort Menschen in Gefahr. Außerdem«, fügte er nach einer winzigen Pause hinzu, »können wir uns ein hübsches Prisengeld verdienen, wenn da wirklich was passiert ist.«
McCearn überlegte nur einen Augenblick. »Versuchen kann ich es ja. Der Kahn läuft nicht mit voller Kraft.« Er drehte am Ruder, und der Bug der POSEIDON schwenkte schwerfällig herum. Der Schatten der Jacht lag jetzt genau vor ihnen.
McCearn gab Gas. »Vielleicht ist da wirklich was zu holen«, murmelte er. »Und wenn nicht, kann ich der Pfeife am Ruder wenigstens die Faust ins Gesicht setzen. Mir ist danach.«
Parwanner drehte sich wieder herum und starrte angestrengt zu dem anderen Schiff hinüber. Die Jacht war vollkommen dunkel. Nicht nur die Positionslampen, sondern auch die Kabinenbeleuchtung war gelöscht. Nicht einmal die kleine Notlampe über der Ruderbank brannte.
Die POSEIDON holte mit quälender Langsamkeit auf. Die Jacht lief höchstens mit halber Kraft, aber der Kutter war nicht für Verfolgungsjagden auf offener See gebaut. Es dauerte fast eine halbe Stunde, ehe das andere Boot längsseits lag.
»Ruf mal rüber«, sagte McCearn gepresst. »Vielleicht antwortet einer.« Seine Hände umklammerten das Steuerruder, während sein Blick wie gebannt am Rumpf der weißen Jacht hing. Es erforderte seine gesamte Konzentration, die POSEIDON längsseits des anderen Bootes zu halten.
Die Manöver der Jacht waren einfach unberechenbar. Sie hielt zwar jetzt einigermaßen den Kurs, wankte aber immer noch wie ein betrunkener Delfin hin und her und kam der Schiffswand der POSEIDON manchmal gefährlich nahe.
Parwanner trat dicht an die Reling heran, formte mit den Händen einen Trichter vor dem Mund und rief aus Leibeskräften.
Die erhoffte Reaktion blieb aus. Wahrscheinlich war seine Stimme im Dröhnen der beiden Schiffsmotoren und dem Heulen des stärker werdenden Sturmes überhaupt nicht zu hören gewesen.
Er wandte sich um, ging zu McCearn zurück und sagte: »Nutzt nichts. Wahrscheinlich hört mich keiner.«
»Das würde ich noch verstehen«, murmelte McCearn. »Aber sie müssen nicht nur taub, sondern auch blind sein.«
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Parwanner.
McCearn grinste schadenfroh. »Ganz einfach. Du springst hinüber.«
»Ich?«, fragte Parwanner entsetzt.
McCearn nickte. »Wer sonst? Es war deine Idee, das Boot zu entern. Bin gespannt, wie du dich als Pirat machst.«
Parwanner zögerte.
»Nun mach schon«, drängte McCearn. »Ich lenke den Kahn so dicht wie möglich heran. Aber du musst dich beeilen.«
Parwanner starrte McCearn einen Herzschlag lang durchdringend an, drehte sich dann um und ging unsicher zur Reling zurück. Die Idee, zwischen den beiden nebeneinander fahrenden Booten herumzuspringen, gefiel ihm ganz und gar nicht.
Er beugte sich über die Reling, sah kurz in die Tiefe und schauderte. Das Wasser zwischen den beiden Booten schien zu kochen. Ein falscher Tritt, eine blitzschnelle Bewegung der Jacht, während er in der Luft hing, eine plötzliche Welle, die eines der Schiffe im falschen Moment traf, und er war so gut wie tot. Selbst wenn er nicht zwischen den beiden Booten zerquetscht oder allein durch den Aufprall auf das Wasser getötet wurde, würde McCearn ihn nie wieder finden. Ein Kutter ist kein Auto. Er würde meilenweit abgetrieben sein, ehe McCearn die POSEIDON gewendet hatte.
Parwanner schloss für Sekunden die Augen, atmete ein und sprang. Für einen schrecklichen, endlosen Moment schien er reglos in der Luft zu hängen, während die Wasseroberfläche unter ihm hinwegjagte, dann landete er auf dem Deck der Jacht, überschlug sich und kam mit einer Rolle wieder auf die
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