Raven - Schattenreiter (6 Romane)
Hohe Wellen hatten die kleine Fähre gründlich durchgeschüttelt und Ladung und Passagiere mehr als einmal durcheinandergeworfen, und Card hatte selbst jetzt noch das Gefühl, sich jeden Augenblick übergeben zu müssen. Der Horizont schien immer noch vor ihm auf und ab zu hüpfen. Aus einer offen stehenden Lagerhalle wehte durchdringender Fischgeruch zu ihm herüber und ließ seinen gemarterten Magen vollends revoltieren.
Er verzog das Gesicht und schloss für einen Moment die Augen, aber dadurch wurde es auch nicht besser. Im Gegenteil.
»Mr. Card?«
Card sah verwirrt auf und zog die Schultern zusammen, als ein eisiger Windstoß von der Seeseite aus in den Hafen fuhr und Menschen und Gebäude mit einem feinen Sprühregen eiskalten Salzwassers überschüttete. Vor ihm stand ein junger, schmalbrüstiger Mann mit kurz geschnittenem Haar und einer überdimensionalen Nickelbrille.
»Inspektor Card?«, wiederholte er.
Card nickte. »Stimmt. Sie erwarten mich?«
»Kemmler«, sagte der Junge und streckte Card die Hand entgegen. »Sergeant Kemmler, um genau zu sein. Ich soll Sie abholen, Sir.«
Card ignorierte die ausgestreckte Hand und betrachtete Kemmler stattdessen genauer. Der Junge kann höchstens zwanzig sein, schätzte er. Allerhöchstens. Sein Gesicht war von einer unnatürlichen, nervösen Blässe, und die übergroße Brille, die bei jedem anderen vielleicht komisch gewirkt hätte, gab seinen Augen einen seltsam melancholischen Ausdruck. Nicht der Typ des Polizisten, diagnostizierte Card. Dieser Junge passte vielleicht hinter einen Bankschalter oder in die Außendienstmannschaft einer Versicherungsgesellschaft, aber nicht hinter den Schreibtisch eines Kriminalbeamten.
»Ich nehme an, Sie sind mit dem Wagen da«, sagte Card knapp.
Kemmler nickte verwirrt und zog seine Hand zurück. »Ich ... ja«, antwortete er unsicher. »Er steht gleich da hinten.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf einen dunkelblauen Ford, der direkt in der Hafeneinfahrt geparkt war. »Ich hole nur rasch ihr Gepäck und ...«
»Das ist unnötig«, unterbrach ihn Card. »Ich habe alles hier.« Er nahm seine Reisetasche auf, machte einen Schritt und sah den Sergeant erwartungsvoll an. »Können wir?«
Kemmler blinzelte nervös und nickte dann hastig. »Sicher.« Er drehte sich um, griff in die Jackentasche und zog die Wagenschlüssel hervor. Card bemerkte, dass seine Finger vor Kälte zitterten. Wahrscheinlich hatte er schon eine geraume Weile in der beißenden Kälte gestanden und auf ihn gewartet. Card hatte die Fähre als letzter Passagier verlassen. Nicht, dass ihn irgendetwas auf dem Boot fasziniert hätte - Card hasste Schiffe jeder Art, und Wassermengen, die über den Inhalt einer Badewanne hinausgingen, waren ihm zuwider -, aber er hatte vom Deck der Fähre einen ausgezeichneten Blick über die Insel. Und es gehörte zu seinen Gewohnheiten, sich möglichst viele Details seiner Umgebung einzuprägen, ganz egal, wo er war.
»Also«, sagte er, nachdem sie in den Wagen gestiegen waren und Kemmler den Motor angelassen hatte, »was ist passiert?«
Kemmler sah überrascht auf. »Ich dachte, Sie ...«
Card brachte ihn mit einer raschen Handbewegung zum Schweigen. »Natürlich weiß ich, was passiert ist. In groben Zügen. Aber Ihr Anruf war alles andere als klar«, erklärte er vorwurfsvoll. »Um genau zu sein, war er fast unverständlich. Fassen Sie Ihre Berichte immer so ab?«
Kemmler wurde noch eine Spur blasser und schluckte. »Normalerweise nicht«, sagte er nach einer Pause. »Aber - es ist viel passiert, was wir uns auch jetzt noch nicht erklären können. Außerdem«, fügte er trotzig hinzu, »sind Sie ja gekommen.«
Card lächelte humorlos. »Das lag weniger an Ihrem Bericht, junger Mann«, sagte er, wobei er das Wort Sergeant absichtlich vermied, »sondern daran, dass Mr. Raven und ich gewissermaßen - Freunde sind.«
Kemmler legte den Gang ein und fuhr los. »Wenn das so ist, dann ist Ihr Freund in Schwierigkeiten«, sagte er, ohne Card anzusehen.
Cards linke Augenbraue rutschte ein Stück nach oben. »Ach?«
Kemmler nickte. »Er ist verschwunden. Er und seine Verlobte. Spurlos verschwunden.«
»Sie verdächtigen ihn?«, fragte Card.
»Sagen wir, ich möchte mich mit ihm unterhalten. Ich und noch eine ganze Menge anderer Leute«, entgegnete Kemmler. »Immerhin war er der Letzte, der Inspektor Belder lebend gesehen hat.«
Card rief sich blitzschnell die Einzelheiten des Berichtes ins Gedächtnis, aufgrund
Weitere Kostenlose Bücher