Raven - Schattenreiter (6 Romane)
werden. Die beiden sind gründlich vernommen worden. Sie werden kaum erfreut darüber sein, schon wieder Fragen beantworten zu müssen.« Er lächelte flüchtig. »Sie verlieren keine Zeit, wie?«
»Nicht, wenn ich es vermeiden kann. Zwei Leichen sind genug. Hat die Suchmannschaft irgendwelche brauchbaren Ergebnisse erzielt?«
»Suchmannschaft?«
Card blinzelte überrascht. »Sie haben doch eine Mannschaft zusammengestellt und die Insel abgesucht?«, fragte er misstrauisch.
Kemmler schwieg einen Augenblick und schüttelte dann den Kopf. »Natürlich nicht«, antwortete er.
»Und - warum nicht?«
»Wir haben den Hafen abgeriegelt, wenn Sie das meinen«, sagte Kemmler. »Außerdem führen wir verstärkt Straßenkontrollen durch, aber das ist auch alles, was wir tun können. Ich glaube, Sie begehen den gleichen Fehler wie die meisten Festländer, Inspektor: Auf der Landkarte mag die Isle of Wight nicht viel mehr als ein winziger Fleck sein, aber sie ist verdammt groß. Sie brauchen eine kleine Armee, um die Insel gründlich abzusuchen. Eine Handvoll Männer kann sich hier wochenlang versteckt halten. Außerdem«, fügte er düster hinzu, »werden sie kaum so nett sein, jetzt noch in ihren albernen Verkleidungen herumzulaufen.«
Card bezweifelte das. Aber er zog es vor, nichts zu sagen. Wenn sich seine Befürchtungen bewahrheiteten, würde Kemmler noch früh genug Gelegenheit bekommen, ihn für verrückt zu erklären.
Das Ding sah aus wie eine überdimensionale Küchenschabe. Der Körper war niedrig, flach und von einem silbrigen, vielfach gegliederten Schuppenpanzer umgeben. Ein halbes Dutzend dünner, mit zahllosen Gelenken versehener Beine scharrte über den steinigen Boden.
Raven vergeudete wertvolle Sekunden damit, das plötzlich aufgetauchte Monstrum anzustarren. Der dreieckige Schädel des Ungetüms pendelte suchend umher. Die kräftigen, vorspringenden Beißzangen schnappten gierig in die leere Luft, und in dem halb geöffneten Maul konnte Raven eine Doppelreihe breiter, kräftiger Zähne erkennen. Das Ungeheuer reichte ihm gut und gerne bis zur Hüfte. Die Länge schätzte Raven auf mehr als zwei Meter.
Das Monster verharrte sekundenlang reglos in dem Felsspalt, aus dem es aufgetaucht war. Der augenlose Kopf streckte sich witternd in seine Richtung.
Raven wich langsam zurück, ohne das Monstrum auch nur einen Sekundenbruchteil aus den Augen zu lassen. Seine Gedanken überschlugen sich. Er wusste, dass er gegen dieses Ungeheuer mit bloßen Händen keine Chance haben würde. Der silbrig schimmernde Panzer sah sehr stabil aus.
Ravens Blick irrte suchend über den Boden. Er erinnerte sich, das Schwert eines Schattenreiters aufgerafft zu haben, ehe er sich in den Schlund des magischen Tores geworfen hatte.
Er hatte keinen Gedanken mehr an die Waffe verschwendet, seit er dieses unterirdische Reich betreten hatte. Aber es musste hier irgendwo sein. Er wich zwei, drei weitere Schritte zurück, sah sich hastig um und blickte wieder zu der Riesenschabe hinüber. Das Untier hatte seine Bewegung wahrgenommen. Der lang gestreckte Körper richtete sich auf, huschte mit erstaunlicher Eleganz über den Boden und verharrte dann wieder reglos. Die dünnen Antennen auf seinem Kopf peitschten die Luft.
»Nur schön ruhig bleiben, Junge«, sagte Raven leise. »Niemand tut dir was ...« Der riesige Höhlendom verzerrte seine Stimme und warf sie als vielfach gebrochenes Echo zurück. Raven machte einen weiteren Schritt, stieß mit dem Rücken gegen einen Felsen und blieb stehen. Irgendetwas rutschte unter seinem Fuß weg und glitt klirrend über den Fels. Raven senkte hastig den Blick.
Das Schwert!
Er seufzte erleichtert, bückte sich rasch und hob die Waffe auf. Sie fühlte sich schwer und ungelenk an, aber ihr Gewicht gab ihm Sicherheit.
Das Monstrum war abermals auf ihn zugehuscht, als er sich bewegt hatte. Die grausamen Scheren vor seinem Schädel waren jetzt dicht vor Ravens Beinen.
Raven atmete tief ein, schloss die Augen und hob die Waffe mit beiden Händen über den Kopf. Seine Muskeln spannten sich. Der dreieckige Schädel der Riesenschabe pendelte erregt hin und her. Die Antennen peitschten nervös.
Ravens Arme sausten herab. Die Klinge traf den gepanzerten Schädel des Monstrums mit fürchterlicher Wucht - und brach ab. Ein dumpfer, lähmender Schmerz zuckte durch Ravens Arme. Er hatte das Gefühl, auf einen massiven Felsblock geschlagen zu haben. Der Schmerz erreichte seine Schultern, explodierte in
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