Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Raven - Schattenreiter (6 Romane)

Raven - Schattenreiter (6 Romane)

Titel: Raven - Schattenreiter (6 Romane) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
so unvollständig wie der Spruch, der ihn geweckt hatte.
    Er stöhnte, ein leiser, qualvoller Laut, der von den schimmernden Wänden auf bizarre Weise gebrochen und zurückgeworfen wurde. Seine Hände zuckten, ballten sich zu Fäusten und öffneten sich wieder.
    Das grüne Licht verstärkte sich, flackerte, und auf den vorher noch glatten Wänden erschien plötzlich ein verwirrendes Muster kabbalistischer Linien und Zeichen. Aber auch dieses Muster war unvollständig, zerstört und verwischt.
    Der Magier richtete sich auf seinem steinernen Bett auf und betrachtete seine Hände. Die Haut war alt und runzelig, aber noch zeichnete sich der Tod, der sich bereits in seinem Körper eingenistet hatte, nicht darauf ab.
    Noch ...
    Doch er spürte, wie die Zeit verrann, unerbittlich und stetig. Eintausendfünfhundert Jahre lang hatte ihn der Mantel der Magie vor dem Weg alles Sterblichen beschützt, doch nun war dieser unsichtbare Schild geborsten, zerbrochen aus Leichtsinn oder Unwissenheit. Und so, wie der Spruch nur einen Teil seiner Lebensgeister erweckt hatte, hatte er auch nur einen Teil seines Bewusstseins aus den Tiefen des Todes emporgerisssen.
    Er war erwacht, aber er war nicht viel mehr als ein Schatten seines früheren Ichs, ein negativer, böser Abklatsch des weisen und gütigen Magiers, der er einmal gewesen war, einzig beseelt von dem Wunsch, den Menschen zu finden, der die Beschwörungsformel gesprochen hatte, und den Schaden wiedergutzumachen. Bereits jetzt spürte er, wie der Tod seine knöcherne Hand nach ihm ausstreckte, um ihn endgültig in sein lichtloses Reich zu zerren.
    Aber er hatte eine Chance. Eine winzige Chance nur, wenige Tage oder auch nur Stunden, in denen seine Kraft noch reichen mochte, dem Drängen des Knochenmannes zu trotzen. Und wenn er auch nur noch einen Teil seiner Erinnerungen besaß und seine Kraft auf eine Winzigkeit dessen zusammengeschrumpft war, worüber er früher verfügt hatte, so besaß er noch immer genügend Macht, den zu suchen, der ihn erweckt hatte, und alles wieder in Ordnung zu bringen.
    Oder sich an ihm zu rächen ...
    Er stand auf, schwankte einen Moment und verharrte dann reglos. Worte fielen ihm ein, die letzten Worte, die er in seinem früheren Leben zu Lancelot gesprochen hatte.
    »Ich bin nicht mehr als ein Traum«, hatte er gesagt. »Für die einen ein Traum, doch für die, die sich mir in den Weg stellen, werde ich zum Albtraum!«
    Aber selbst er ahnte in diesem Moment noch nicht, wie sehr sich diese Worte bewahrheiten sollten.
    Einen Moment lang verharrte sein Körper reglos neben dem Basaltblock, dann flimmerte die Luft in der Kammer, als würde sie plötzlich erhitzt, und der Körper verschwand.
    Wieder breitete sich Stille und Dunkelheit in der Grabkammer aus. Und doch hatte sich etwas verändert. Etwas, das ungeheure Konsequenzen haben konnte, obwohl es auf der ganzen Welt nicht einen Menschen gab, der davon wusste ...
 
MERLIN WAR ERWACHT!
    Es begann bereits zu dämmern, und das Licht, das durch die schmalen, im Laufe der Jahre blind gewordenen Scheiben hineinsickerte, war grau und trübe geworden, sodass das Zimmer von huschenden Schatten und einem Gefühl von Kälte und Feuchtigkeit erfüllt zu sein schien. Unten auf dem Hof, acht Stockwerke unter der schäbigen Zwei-Zimmer-Wohnung, lärmten noch einige Kinder. Ihre Stimmen vermischten sich mit dem Verkehrslärm und den Geräuschen der langsam erwachenden Bars und Nachtclubs auf der anderen Seite des Straßenzuges und drangen gedämpft durch die Scheiben.
    Wilburn sah von seinem Buch auf, blinzelte aus müden, geröteten Augen zum Fenster und stand dann auf, um zur Tür zu schlurfen und das Licht einzuschalten. Unter der Decke glomm eine schwache Glühbirne auf und kämpfte vergeblich gegen die hereindrängenden Schatten an.
    Wilburn sah auf die Uhr, schüttelte mit einem bedauernden Blick auf das aufgeschlagene Buch den Kopf und schlich mit hängenden Schultern in die Küche, um sein Abendessen zuzubereiten. Wie auch in den beiden anderen Räumen der winzigen Dachwohnung war hier jeder freie Quadratzentimeter der Wände mit Regalbrettern voller Bücher und Papiere vollgestopft, und ein muffiger Bibliotheksgeruch hing in der Luft.
    Wilburns Leben bestand nur aus Büchern. Er war Angestellter in der Staatlichen Bibliothek, aber auch zu Hause verbrachte er jede freie Sekunde mit seinen geliebten Büchern und trennte sich nur äußerst widerwillig davon, um sich etwas zu essen zu machen oder zu schlafen.

Weitere Kostenlose Bücher