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Raven - Schattenreiter (6 Romane)

Raven - Schattenreiter (6 Romane)

Titel: Raven - Schattenreiter (6 Romane) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Selbst wenn er nicht las, stöberte er fast ununterbrochen darin herum, sortierte seine im Laufe der Jahrzehnte auf gewaltige Ausmaße angewachsene Sammlung nach immer wieder neuen Systemen um, und außer um zur Arbeit zu gehen oder einzukaufen, verließ er seine Wohnung praktisch nur, um in irgendwelchen Antiquariaten nach Schätzen zu fahnden, die in seiner Sammlung noch fehlten.
    Und selbst jetzt, als er den Herd einschaltete, Fett in die Pfanne tat und sorgfältig zwei Eier aufschlug, weilten seine Gedanken beim Inhalt des Buches, in dem er gerade gelesen hatte. Er rührte die Eier und starrte sekundenlang in die Pfanne, ehe er mit umständlichen Bewegungen nach dem Salzstreuer griff, der auf einem kleinen Bord direkt auf dem Herd neben einer schweren Keramiktasse, einem in eine Serviette eingedrehten Essbesteck und einem bemalten Porzellanteller stand; sein gesamter Bestand an Essgedecken. Er brauchte nicht mehr. Er bekam nie Besuch, da er keine Freunde hatte und auch sonst niemanden kannte.
    Ein leises Geräusch ließ ihn aufblicken. Wilburn runzelte die Stirn, wandte sich halb um und blickte eine Sekunde lang zum Wohnzimmer hinüber. Das Geräusch wiederholte sich nicht, aber er war sicher, es gehört zu haben: ein Schleifen und Schaben, als würde ein schwerer Gegenstand über den nackten Holzboden gezogen.
    Er überlegte einen Augenblick lang, sah auf seine Pfanne hinab - die Eier begannen bereits fest zu werden, aber für einen Moment konnte er sie schon ohne Aufsicht lassen - und ging dann langsam zur Tür. Misstrauisch blickte er sich in dem kleinen, mit Regalen und Papierstapeln vollgestopften Raum um.
    Es war niemand da, natürlich nicht. Er schloss stets hinter sich ab, wenn er die Wohnung betrat, und selbst wenn er es einmal vergessen sollte, würde nichts geschehen. Das Haus lag in einem der schäbigsten Viertel Londons, aber sogar die Gassenjungen unten auf der Straße wussten, dass bei ihm nichts zu holen war. Im Laufe der Jahrzehnte, die er jetzt hier lebte, hatte er sich einen gewissen Ruf als Sonderling eingehandelt. Er wusste davon, aber es störte ihn nicht. Im Gegenteil, es half ihm, seine geliebte Einsamkeit zu erhalten.
    Er zuckte die Achseln, drehte sich erneut um und ging zum Herd zurück. Die Eier waren fertig. Er schaltete den Herd ab, ruckelte ein bisschen am Pfannenstiel, damit die Eier nicht ansetzten, und begann mit umständlichen, sorgfältigen Bewegungen, Teeblätter in das Sieb zu zählen.
    Das Geräusch wiederholte sich.
    Wilburn fuhr wie von der Tarantel gestochen herum. Diesmal war er absolut sicher, sich nicht getäuscht zu haben. Und diesmal hatte er das Geräusch auch deutlich identifiziert.
    Es waren Schritte ...
    Aber er war doch allein in der Wohnung.
    Er zögerte, schluckte ein paarmal und ging dann, mit einem schartigen Küchenmesser zum Schutz gegen eventuelle Einbrecher bewaffnet, aus der Küche. Das Wohnzimmer war leer wie beim ersten Mal, aber Wilburn spürte einfach, dass er nicht allein war. Mit dem gleichen sicheren Empfinden, das einen Blinden spüren lässt, wenn ein anderer Mensch in seiner Nähe ist, merkte Wilburn, dass außer ihm noch jemand im Zimmer war.
    Jemand - oder etwas.
    Wilburns Herz begann schnell und schmerzhaft zu pochen. Er war ein ängstlicher Mensch, und allein der Gedanke an Gewalt bereitete ihm Übelkeit. Aber er spürte einfach, dass da irgendetwas war, das sich ihm näherte, unsichtbar, langsam, aber unaufhaltsam, und irgendwoher nahm er auch die Gewissheit, dass er nicht weglaufen konnte. Die Tür war nur ein paar Schritte entfernt, aber er wusste, dass er sie nicht erreichen würde.
    Irgendetwas geschah mit dem Licht. Der gelbe Schein der Glühlampe schien mit einem Mal zu verblassen, und vor den Fenstern zog eine Dunkelheit auf, die keines natürlichen Ursprungs mehr war. Die Schatten im Zimmer wurden dunkler und massiger und schienen sich zusammenzuballen, ungewisse Formen und Umrisse anzunehmen.
    »Wer - wer ist da?«, keuchte Wilburn. Seine Stimme zitterte, und in seiner Brust machte sich ein scharfer, stechender Schmerz bemerkbar. Die Atemzüge brannten plötzlich in seiner Kehle, und auf seiner Zunge lag ein bitterer Geschmack. »Ist - ist da jemand?«, fragte er noch einmal.
    Sein Blick sog sich an der dunklen Erscheinung in der Zimmermitte fest. Sie wirkte wie eine Wolke, ein schwarzes Nichts, lebendig gewordene Schatten, die sich allmählich zu menschenähnlichen Umrissen zusammenzuballen begannen.
    Wilburn keuchte, ließ das

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