Raven - Schattenreiter (6 Romane)
und zog ihn aus der Scheide. Die Klinge war etwa fünfzehn Zentimeter lang, rasiermesserscharf und mit komplizierten, verschlungenen Mustern versehen. Sie schien unter den schräg einfallenden Strahlen der Morgensonne geheimnisvoll aufzuleuchten, und als er die Augen schloss, glaubte er ein sanftes, drängendes Pochen zu spüren, das Pulsieren fremder, gewaltiger Kräfte und uralter Magie, die in der Waffe eingeschlossen waren.
Er drehte sich um, verließ das Wohnzimmer und schlurfte langsam zum Gästezimmer hinüber.
Carol schlief noch. Die Tür war nur angelehnt, und Jeffrey schlich auf Zehenspitzen ins Zimmer.
Sie wirkte unglaublich verloren und zerbrechlich in dem riesigen Bett. Sie lag auf der Seite, zusammengerollt wie ein kleines Kind, und die Umrisse ihres Körpers zeichneten sich deutlich unter der dünnen Decke ab.
Zögernd trat Jeffrey einen Schritt näher. Die Hand mit dem Messer hob sich langsam.
Aber er konnte es nicht tun.
Sie wird es nicht einmal spüren, wisperte eine Stimme in seinem Kopf. Ein schneller, sauberer Schnitt, und es ist vorbei. Sie wird nicht einmal aufwachen.
Aber er konnte es nicht. Seine Hand verharrte auf halber Höhe, sein Arm schien plötzlich wie gelähmt, ein kraftloser, nutzloser Klumpen Fleisch, der seinen Befehlen nicht mehr gehorchte. Er konnte es nicht.
Nicht jetzt.
Die Frist war noch nicht vorbei. Er hatte noch zwei Tage. Zwei Tage, in denen er sie glücklich machen konnte.
»Raven!« Inspektor Card sah flüchtig auf, als Raven eintrat, und bot ihm mit einer Handbewegung Platz an, ohne selbst aufzustehen. »Es freut mich, dass Sie gekommen sind«, knurrte er, nachdem Raven sich gesetzt hatte.
Der Privatdetektiv lächelte humorlos. »Einer so freundlichen Einladung konnte ich unmöglich widerstehen«, sagte er. Die freundliche Einladung hatte aus zwei Polizeibeamten bestanden, die ihn um sechs Uhr aus dem Bett geklingelt hatten.
Card schenkte ihm einen giftigen Blick, lehnte sich zurück und gähnte ungeniert. »Wir haben die ganze Nacht gearbeitet«, sagte er. »Ein Teil der Geschichte, die Pendrose erzählt hat, scheint zu stimmen.«
»Ein Teil?«
Card nickte. »Er war vor zwei Jahren im Irak, und er hat einen Cousin namens Jeffrey Scott Candley - die Adresse habe ich hier -, der ihn damals auf dieser Reise begleitet hat.« Card beugte sich vor, musterte Raven aus verschlafenen, roten Augen und blinzelte. »Ein bisschen komisch ist die Sache schon, Raven. Die beiden waren damals typische arme Studenten - und heute gehören sie zu den reichsten Männern der Stadt. Oder gehörten, soweit es Pendrose angeht. Das Komische ist, dass niemand so genau weiß, woher dieser Reichtum kommt.«
»Arbeiten sie nicht?«, fragte Raven.
»Pendrose nicht. Candley hat sich in knapp zwei Jahren zum Vizepräsidenten von Benson und Benson hochgearbeitet. Aber wenn man seiner Einkommensteuererklärung glauben kann, dann arbeitet er dort nur aus Langeweile. Er hat genug Geld, um die halbe Firma zu kaufen.«
»Haben Sie ihn schon verhört?«, fragte Raven.
Card zog eine Grimasse. »Wissen Sie, wie spät es ist?«
»Seit wann stört Sie das?«, konterte Raven.
»Wenn es sich um den Vizepräsidenten von Benson und Benson handelt, stört es mich schon«, sagte Card. »Aber wenn es Sie beruhigt, ich hatte sowieso vor, jetzt nach Hause zu fahren. Candleys Wohnung liegt fast auf dem Weg. Ich werde bei ihm vorbeischauen.«
»Darf ich mitkommen?«
Card überlegte einen Herzschlag lang. »Warum?«
Raven zuckte mit den Schultern. »Sagen wir - der Fall interessiert mich.«
»Sie haben damit nichts mehr zu schaffen«, knurrte Card ärgerlich. »Die Angelegenheit liegt jetzt in den Händen von Scotland Yard. Und da bleibt sie auch.«
»Das soll sie auch. Nur ...« Raven zögerte. »Ich habe noch eine kleine persönliche Rechnung mit Pendroses Mörder.«
»Hm?« Card runzelte die Stirn. »Ach so - die fünftausend Pfund.«
»Das wäre verdammt viel Geld für mich gewesen«, nickte Raven.
»Oh, für mich auch. Aber ich bin trotzdem dagegen, dass Sie sich einmischen.«
Raven grinste. »Ach ja, Sie mögen ja keine - Schnüffler.«
»Ganz recht. Aber der Fall liegt hier etwas anders. Sehen Sie, wir haben das Haus und das Apartment gründlich durchsucht, und es haben sich eine Reihe von ... hm ... Absonderlichkeiten ergeben.«
»Absonderlichkeiten? Sie meinen den Pferdehufabdruck?«
»Unter anderem. Aber es scheint Pendrose oder einem der Wachleute gelungen zu sein, den Mörder zu
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