Raven - Schattenreiter (6 Romane)
zusammen angreifen«, keuchte der Arzt. »Zu dritt haben wir eine Chance. Auf mein Zeichen!«
Aber Wilburn wartete nicht so lange. Er sprang plötzlich vor, trat dem Pfleger, den er mit sicherem Instinkt als den gefährlichsten Gegner identifiziert hatte, die Beine unter dem Leib weg und schlug gleichzeitig nach der Waffe in der Hand des Arztes. Das Skalpell blitzte auf, schnitt tief in seinen Arm und fiel klappernd zu Boden.
Der Arzt wich mit einem erstickten Aufschrei zur Wand zurück. Die Waffe hatte einen fast dreißig Zentimeter langen, bis auf den Knochen reichenden Schnitt auf Wilburns Arm hinterlassen, aber aus der Wunde drang nicht ein einziger Blutstropfen! Langsam dämmerte in den drei Menschen die Erkenntnis, dass sie es hier nicht mit einem Scheintoten, sondern mit einem viel bizarreren Wesen zu tun hatten - einem Wesen, das tot und doch auf diabolische Weise lebendig war ...
Wilburn hatte sich in einen Zombie verwandelt!
»Jetzt!«, befahl der Arzt.
Er stieß sich von der Wand ab, rammte Wilburn die Schulter gegen die Brust und griff nach seinen Handgelenken. Gleichzeitig warf sich der Pfleger gegen seine Beine.
Diesem doppelten Ansturm war der Unheimliche nicht gewachsen. Er wankte, ruderte verzweifelt mit den Armen und fiel schließlich schwer nach hinten.
Die drei Männer warfen sich sofort auf ihn.
Der Zombie bäumte sich auf. Seine Arme wirbelten wie Dreschflügel durch die Luft und krachten mit grausamer Wucht gegen die Brust des Chefarztes. Der Mann wurde zurückgeschleudert, brach zusammen und rang qualvoll nach Atem, während sich der Zombie bereits herumwarf, die beiden anderen Angreifer abschüttelte und erneut mit seinen dürren Händen zuschlug. Auch der zweite Assistenzarzt fiel bewusstlos zu Boden; ein dritter, blitzartig geführter Hieb streckte den Pfleger nieder.
Wilburn richtete sich langsam auf und sah sich aus flammenden Augen um. Eine unheimliche Veränderung ging mit seinem Gesicht vor sich. Seine Züge schienen zu verlaufen, wie warmes Wachs zu einer glatten, konturlosen Fläche zu verschmelzen und sich neu zu formen.
Als die Verwandlung abgeschlossen war, war sein Gesicht nicht mehr das des alten, sanftmütigen Bibliothekars, sondern ein schmales, von tiefen Runzeln und Falten durchzogenes Antlitz mit stechenden Augen und einem harten Zug um den Mund.
Merlins Gesicht ...
Aber das Gesicht eines Merlins, der nicht mehr als eine bösartige Karikatur seines früheren Ichs war, ein finsteres, dämonisches Wesen.
Sekundenlang blieb er noch reglos stehen und starrte auf die bewegungslosen Körper zu seinen Füßen herab. Ein leises Stöhnen drang an sein Ohr, aber Worte wie Mitleid und Menschlichkeit gehörten nicht zum Wortschatz des Dämons.
Er bückte sich, riss dem reglosen Pfleger den Kittel vom Leib und schlüpfte hinein, ehe er sich umwandte und mit raschen Schritten zur Tür ging.
Mitternacht war vorüber, aber Raven fand in dieser Nacht keinen Schlaf. Er saß seit Stunden nervös hinter seinem Schreibtisch, starrte das Telefon an und widerstand Mal um Mal mühsamer der Versuchung, den Hörer abzuheben und Card anzurufen. Er wusste, dass es sinnlos war. Card würde sich melden, sobald er etwas erfuhr. Wenn es überhaupt einen Menschen in London gab, der den Ernst der Situation außer ihm noch erfassen konnte, dann Card.
Er stand auf, griff nach der Whiskyflasche und dem Glas und ließ beides mit einem Achselzucken wieder sinken. Der Alkohol würde ihn vielleicht beruhigen, aber er hatte sich bereits zwei Drinks gegönnt, und wenn Card doch noch anrufen sollte, brauchte er einen klaren Kopf. Er stellte die Flasche zurück aufs Regal, trug das Glas in die Küche und ließ Wasser hineinlaufen. Es schmeckte abgestanden und warm, löschte aber trotzdem seinen Durst.
Ohne Licht einzuschalten, durchquerte er den Wohnraum und trat ans Fenster. Die Stadt lag dunkel und ruhig unter ihm. Im Westen, über dem Zentrum, erhob sich eine flimmernde Lichtglocke, aber das Nachtleben Londons erstreckte sich nicht bis hierher. Die Lichter in den umliegenden Häusern waren längst erloschen, und wahrscheinlich war er in der gesamten Straße der Einzige, der noch nicht schlief.
Aber selbst wenn er gewollt hätte, hätte er in dieser Nacht keine Ruhe gefunden. Obwohl er sich dagegen wehrte, musste er fast ununterbrochen daran denken, was passieren konnte, wenn sie das Buch nicht zurückbekamen und Wilburns Versprechen nicht einlösen konnten.
Ein leises Schaben schreckte ihn aus
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