Raven - Schattenreiter (6 Romane)
Card bedeutete ihnen mit einem Wink zu warten, führte Raven rasch durch den Raum und schlug die Plane zurück.
Es war Wilburn. Raven starrte das ausgezehrte, bleiche Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen sekundenlang mit stummer Verzweiflung an und nickte dann. »Er ist es«, murmelte er.
»Haben Sie daran gezweifelt?«
Raven schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Aber manchmal klammert man sich an die unmöglichsten Hoffnungen, nicht?«
Card gab den Männern einen Wink, und sie brachten den Leichnam hinaus. »Ich werde mich sofort um das Buch kümmern«, sagte er, während er Raven zur Tür begleitete. »Vielleicht erfahre ich heute Abend noch etwas. Am besten, Sie fahren nach Hause. Kann sein, dass ich Sie heute noch anrufe.«
»Ich hoffe es«, sagte Raven. Er verabschiedete sich mit einem stummen Händedruck von Card, drängte sich durch den überfüllten Flur zur Treppe und ging langsam die ausgetretenen Stufen hinab. Seine Gedanken wirbelten wirr durcheinander. Wilburns Tod änderte alles. Wenn Card das Buch nicht fand ...
Er prallte gegen einen Mann, entschuldigte sich und ging rasch weiter, immer noch in Gedanken versunken. Die schäbig gekleidete Gestalt mit den stechenden Augen, die ihm bis zu seinem Wagen folgte und sich sein Nummernschild notierte, bemerkte er nicht ...
Der Raum war groß, still und klinisch sauber. Eine ganze Batterie meterlanger Neonleuchten verbreitete grelles weißes Licht, und die gefliesten Wände warfen alle Geräusche mit seltsam hellen Echos zurück. An der Südseite des Raumes befand sich eine große, grau gestrichene Konstruktion, die an einen überdimensionalen Aktenschrank erinnerte; ein rechteckiger Kasten mit zwei Dutzend großer Schubläden, auf denen sich kleine handgeschriebene Karten befanden. Es war kühl, und das Gitter der Klimaanlage hoch unter der Decke verströmte ständig weiter kalte Luft und sorgte dafür, dass die Temperatur in dem Raum niemals über ein bestimmtes Maß stieg. Leichter Krankenhausgeruch lag in der Luft.
»Der Nächste«, sagte einer der drei Ärzte, die - in grüne Operationskittel gekleidet und mit Mundtüchern und Haarnetzen versehen - um den niedrigen Operationstisch in der Mitte des Raumes herumstanden. Seine Stimme klang müde; die Stimme eines Mannes, der mehr gearbeitet hatte, als für ihn gut war, und der wusste, dass der Tag noch lange nicht vorbei war.
»Warum habe ich nur nicht auf meine Mutter gehört?«, murmelte er kopfschüttelnd, während er darauf wartete, dass die beiden Pfleger die nächste Schublade öffneten und einen weiteren steifen Körper heraushoben. Seine Finger spielten unbewusst mit einem Skalpell. Auf der Klinge glitzerte ein Blutstropfen. Er legte es weg, griff in die Instrumentenschale neben dem Tisch und nahm ein frisches Messer hervor. »Sie hat mich gewarnt. Junge, sagte sie immer, werde Musiker oder Schriftsteller. Aber ich musste ja unbedingt Pathologe werden.« Er seufzte, sah seine beiden jüngeren Kollegen nachdenklich an und blickte dann ungeduldig auf, um nach den beiden Pflegern zu sehen.
»Macht Ihnen Ihr Beruf keine Freude mehr?«
Der Arzt lachte leise. Seine Stimme drang nur gedämpft hinter dem Mundschutz hervor. »Als ich so jung war wie Sie beide«, sagte er nach sekundenlangem Zögern, »hat er mir noch Freude gemacht. Aber irgendwann verliert man die Lust daran, an Leichen herumzuschneiden, wissen Sie.« Er seufzte. »Wenn man Ihnen irgendwann einmal eine Stelle als Pathologe anbietet, meine Herren, lehnen Sie ab«, riet er. »Es lohnt sich nicht.«
Er trat beiseite, als die Pfleger mit einer schmalen Bahre herangefahren kamen. Auf dem nackten Kunstleder lag ein dürrer männlicher Körper, steif und anscheinend unversehrt und mit einem eingefrorenen, entsetzten Ausdruck auf den Zügen.
»Wilburn, Francis«, las der Arzt leise vor. Er deutete auf den Zettel, der mit einem Stück Bindfaden am großen Zeh der Leiche befestigt war. »Sehen Sie, meine Herren, das ist alles, was von einem Menschen übrig bleibt. Ein paar Pfund Fleisch und Knochen und ein Stück Pappkarton mit seinem Namen darauf. Dabei hat er vor wenigen Stunden noch gelebt und vermutlich Freunde gehabt, vielleicht Kinder.«
Er wartete, bis die beiden Pfleger den nackten Körper auf den Operationstisch gelegt hatten, und trat dann wieder näher. Die Spitze seines Skalpells deutete auf das starre Gesicht des Toten.
»Irgendwo in dieser Stadt, meine Herren«, sagte er in einer Mischung aus übertriebener Trauer
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