Raven - Schattenreiter (6 Romane)
...
Trotzdem hatte Wilburn plötzlich Angst.
»Tot?«, keuchte Raven. »Wilburn?«
Card nickte knapp. »Einer von drei Toten. Die beiden anderen ...« Er brach ab, sah sich hastig um und deutete dann mit einer Kopfbewegung auf die Durchgangstür zur Küche. »Gehen wir dorthin«, sagte er. »Da können wir ungestört reden.«
Er wandte sich um, gab seinen Untergebenen noch ein paar knappe Anweisungen und ging dann vor Raven her in die winzige Kochküche. Auch hier drängten sich uniformierte Polizeibeamte und Feuerwehrleute, aber Card scheuchte sie mit einer wortlosen Geste aus dem Raum und schloss die Tür hinter ihnen.
»So«, sagte er. »Und nun zu Ihnen. Was haben Sie hier verloren?«
»Wie ich vorhin sagte«, antwortete Raven, »Wilburn hat mich beauftragt, etwas für ihn zu tun. Aber das scheint sich nun erledigt zu haben. Ich fürchte es zumindest.« Er lehnte sich gegen die Tür, verschränkte die Arme vor der Brust und sah Card nachdenklich an. »Ich habe den halben Tag vergeblich versucht, Sie zu erreichen«, sagte er. »Sonst wäre das hier vielleicht nicht passiert.«
Er weidete sich einen Moment an Cards verblüfftem Gesichtsausdruck und erzählte dann das Wenige, was er von Wilburn wusste. Card gehörte zu den wenigen Menschen, die ihm die Geschichte vielleicht glauben würden. Aber selbst auf seinem Gesicht spiegelten sich Zweifel und Unglauben, als Raven geendet hatte.
»Wenn mir das irgendein anderer erzählt hätte«, sagte er dann auch, »würde ich ihn wahrscheinlich auf der Stelle einsperren lassen. Aber Sie ...«
»Was geschah mit dem Buch?«
Card zuckte die Achseln. »Ich habe es Biggs zurückbringen lassen«, antwortete er. »Besser gesagt, seiner Haushälterin. Sie wissen, dass der Professor tot ist?«
Raven nickte. »Leider. Unser Problem wäre nur halb so groß, wenn Sie weniger gewissenhaft wären, Inspektor.«
Card machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das ist halb so wild«, meinte er. »Biggs hat die Klinik nicht mehr verlassen. Er ist an den Verletzungen gestorben, die er damals erlitten hat. Das Buch muss noch da liegen, wo die Dame es hingelegt hat.«
»Sie wissen es?«
»Nein. Aber es dürfte kein Problem sein, die Adresse der Haushälterin herauszubekommen. Der Rest ist dann mit ein paar Telefonaten erledigt. Was mir mehr Sorgen macht, sind die beiden Galgenvögel, die draußen im Flur liegen. Sieht so aus, als hätten unsere Freunde aus der Unterwelt auch schon Wind von der Sache bekommen.«
Raven überlegte einen Moment. »Sie fürchten, die beiden waren hier, um Wilburn das Buch abzunehmen?«
»Aus welchem anderen Grund sonst?« Card lachte humorlos. »Sehen Sie sich doch in der Bruchbude um. Es gibt hier nichts, was einen Einbrecher anlocken könnte. Außerdem waren die beiden keine gewöhnlichen Gauner. Ich kenne einen von ihnen. Er gehörte zu einer Bande, die die Gegend hier unsicher macht.«
»Wie sind sie umgekommen?«
Card zögerte mit der Antwort. »Das ist es ja gerade«, sagte er unglücklich. »Sehen Sie hier irgendwelche Brandspuren?«
»Natürlich nicht.«
»Aber jemand hat das Feuer gesehen«, fuhr Card unbeirrt fort. »Und die beiden sind erstickt. Zumindest nach der ersten flüchtigen Untersuchung.«
»Nachdem sie Wilburn umgebracht haben?«
Card schüttelte den Kopf. »Nein. Wilburns Körper weist keinerlei Verletzungen auf. Er ist einfach tot. Vielleicht Herzschlag - wer weiß. Den genauen Obduktionsbefund erhalte ich morgen früh. Aber ich glaube nicht, dass die beiden ihn umgebracht haben. Sie wollten es vielleicht, aber irgendjemand scheint ihnen dazwischengefunkt zu haben.«
»Merlin.«
»Es wäre eine Erklärung für vieles«, murmelte Card. »Das Feuer, das jedermann gesehen haben will, die beiden Toten ...« Card brach ab, sog hörbar die Luft ein und grinste schief. »Vielleicht sollten wir doch eine Sonderkommission zur Bekämpfung von Geistern und Gespenstern bilden.«
Raven überlegte einen Moment, ob die Worte nun ernst oder als sarkastischer Scherz gemeint waren. Er wusste es nicht, und wahrscheinlich wusste Card es in diesem Augenblick ebenso wenig.
»Kann ich - Wilburn sehen?«, fragte er stockend.
Card nickte. »Sicher. Ich weiß zwar nicht, was Sie sich davon versprechen, aber ... kommen Sie!«
Sie verließen die Küche und betraten wieder das überfüllte Wohnzimmer. Zwei Männer in weißen Sanitätsanzügen waren gerade dabei, einen schmalen, in eine Plastikplane eingeschlagenen Körper auf eine Bahre zu heben.
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