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Ravinia

Titel: Ravinia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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Szenenwechsel.
    Manchmal lässt eine Nacht seltsame Dinge geschehen. Dinge, die randvoll sind mit Schicksal, mit Glück und mit Verderben. Man müsste Angst haben, sie zu berühren. Angst davor, sie überschwappen zu lassen.
    Â»Jeder hat ein Recht auf sein Leben«, stellte Henry McLane fest. »Ungeteilt, eigennützig und nur ihm selbst gegeben. Und niemand darf die Schuld auf sich laden, ihm dieses Recht zu verwehren.«
    Er hatte die Hände hinter dem Rücken gefaltet und lief unruhig auf und ab, während Baltasar Quibbes ruhig dastand und auf die Güterzüge hinunterblickte, die sich in scheinbar endlosen Schlangen durch die Princes Gardens unter ihnen in den unterirdischen Bahnhof der Waverley Station schoben. Beleuchtet vom gelben Licht der Streckenlaternen. Grell gegen die schwarze Nacht.
    Die beiden Männer befanden sich auf der Waverley Bridge, unter der jeder Zug hindurchfuhr, der aus Richtung Glasgow kam, denn wenn sie sich schon trafen – was wohlgemerkt selten genug der Fall war –, dann taten sie es nachts, so wie alle wichtigen Treffen in und um Ravinia meistens nachts stattfanden. Sie waren sich beide nicht sicher, wie sie die Entwicklung der Dinge beurteilen sollten, denn auch ein großes Maß an Lebenserfahrung muss nicht unbedingt vor Ratlosigkeit bewahren.
    Während Henry unruhig hin- und herschritt, rauchte Baltasar eine seiner schwarzen, ägyptischen Zigaretten und pustete den Qualm zwischen den hochgeschlagenen Kragenenden seines Mantels hindurch.
    Â»Du hättest mit den Leuten reden sollen«, meinte er schließlich, ohne den Blick von dem langen Güterzug zu nehmen.
    Henry fuhr herum.
    Â»Zu welchem Zweck, Baltasar? Ich hatte mich entschieden. Das Mädchen hat ein Recht darauf, alles zu erfahren – wenn auch mit Bedacht.«
    Â»Kannst du die Folgen ertragen?«, fragte Baltasar, ohne ihn anzusehen.
    Â»Könnte ich die Schuld auf mich nehmen, ein Leben lang geschwiegen zu haben?«
    Baltasar seufzte und drückte den Stummel seiner Zigarette aus.
    Â»Nein«, sagte er schließlich. »Du hast recht. Jeder hat ein Recht auf sein Leben. Aber die Methode, die du gewählt hast, mag nicht unbedingt die behutsamste sein.«
    Er stützte sich mit beiden Armen auf der Brüstung aus Sandstein ab, der im sauren Regen seine helle Farbe eingebüßt hatte.
    Â»Menschen haben immer Angst«, fügte er hinzu. »Angst vor den Schatten der Vergangenheit und Angst vor Veränderung.«
    Seine Augen sahen weg von den Schienen, und ihr Blick traf Henrys durch die Brille mit den kleinen Gläsern hindurch.
    Â»Und du hast uns mit deiner einsamen Entscheidung beides gebracht: Veränderung und Erinnerungen an grausame Zeiten.«
    Henry hielt seinem Blick stand. Zuckte mit den Schultern und meinte: »Begrabt endlich eure Angst. So wie ihr die Ursachen im wahrsten Sinne des Wortes begraben habt!«
    Baltasar stieß sich vom Geländer ab, starrte Henry tief in die Augen.
    Â» Uns schließt dich ein, mein Lieber«, sagte er bedrohlich, beinahe im Flüsterton. »Begraben sagst du. Ja. Lebendig begraben. Das trifft es eher. Und lebendig begraben sind so auch die Schatten auf dem Gewissen aller, die davon wissen oder ahnen.«
    Für einen kurzen Moment flackerte eine Spur Unsicherheit in Henrys Augen.
    Â»Denkst du, es könnte gefährlich sein? Denkst du, jemand – vielleicht verborgene Anhänger Winters oder wer auch immer noch da draußen sein mag – könnte ihr etwas anhaben wollen?«
    Baltasar legte den Kopf schief, als ob er die Möglichkeiten abwöge. Doch schließlich meinte er: »Eigentlich nicht. Die Zeiten von Roland Winter sind vorbei. Endgültig! Aber es ist moralisch bedenklich.«
    Sie schwiegen.
    Lange.
    Länger.
    Â»Jeder hat das Recht auf sein Leben«, resümierte Baltasar schließlich. »Vielleicht machen wir uns tatsächlich unnötige Sorgen. Lass uns stattdessen Freude an dem haben, was unsere kleine, angehende Schlüsselmacherin vollbringen wird. Denn sie hat nicht nur schimmerndes Haar wie ein Bernstein. Nein, sie hat auch ein schimmerndes Herz.«
    So standen sie noch eine Weile still da und hörten dem Rauschen der Eisenbahn zu.
    Dann flanierten sie zurück in Richtung Royal Mile. Dorthin, wo ein Mädchen mit bernsteinfarbenen Haaren und kastanienbraunen Augen von den Unglaublichkeiten der letzten Tage

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