Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Ravinia

Titel: Ravinia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
Vom Netzwerk:
Letztlich sollten diese Dinge ja auch völlig ohne Belang für sie sein.
    Lee hatte eine Art Schock erlitten. Er hatte Lara während ihrer schlaflosen Nacht auf dem Bergfried der Burg Ravinia erzählt, wie er im Rahmen seiner Möglichkeiten alles, aber auch wirklich alles versucht hatte, um etwas über die Herkunft seiner Eltern herauszufinden. Ein wenig war es ihr gewesen, als hätte sie einen Seelenverwandten gefunden. Jemanden, der genau verstand, welche Dinge Lara plagten. Doch hatte es Lee in puncto Vergangenheitsforschung noch weitaus schlimmer getroffen als sie selbst. Immerhin konnte sie ein Grab besuchen, wusste, welchem Beruf ihre Eltern nachgegangen waren, hatte Fotos gesehen. Der Junge, dessen Augen Sprungbretter und Abgründe zugleich sein konnten, hatte nichts dergleichen. Er hatte ein Zippo-Feuerzeug und eine Mundharmonika, mehr nicht.
    Nachdem Berrie Lee hatte überreden können, eine Tasse Beruhigungstee zu trinken und sich hinzulegen, verließen Tom und Lara das Rondell in Richtung Bibliothek.
    Â»Zeigst du mir den Weg zum Hospital?«, fragte sie Tom, als sie sich schon einige Straßen von Berries Haus entfernt hatten.
    Tom nickte und schob sich mit Lara zusammen durch die nassen, aber lebhaft bevölkerten Straßen.
    Â»Die Leute hier lieben den Regen«, murmelte Tom im Gehen. »Sie haschen nach jedem bisschen Melancholie wie nach einer Droge, und Regen bringt viel davon auf die Erde herab.«
    Â»Sind wir hier überhaupt auf der Erde?«, wollte Lara wissen.
    Â»Das weiß niemand.«
    Â»Und wenn es jemand wissen will?«
    Â»Dann weißt du, was ich ihm sagen würde.«
    Â»Schicksal.«
    Tom wandte den Kopf ein wenig in ihre Richtung und blinzelte ihr zu. Unglaublich. Eine Gefühlsregung im Gesicht Tom Truskas. Lara nahm sich fest vor, diesen Tag im Kalender zu vermerken.

    Skurrilität war das Markenzeichen von Ravinia. Egal ob Mensch, Tier oder Bauwerk. Alles hatte etwas Ureigenes, etwas ganz Besonderes.
    Das Hospital von Ravinia war ein Gebäude, das sich den Abhang zur Oberstadt hinaufrankte wie eine Kletterpflanze. Es war von außen gesehen nicht sehr tief, aber Lara vermutete zu Recht, dass es sich – ähnlich wie die Räumlichkeiten der Alchemisten – bis tief in den Fels dahinter fortsetzte. Beinahe schien es ihr, als würde es eigenständig fortranken und immer weiter wachsen auf der Suche nach ein paar Sonnenstrahlen, denn es gab im sprichwörtlichen Sinne überall Auswüchse, kleine Erker oder Giebel, die sich an die schroffe Felswand krallten wie Efeu an eine Hauswand.
    Â»Ich gehe dann zur Bibliothek«, empfahl sich Tom, nachdem sie das altmodische Foyer betreten hatten.
    Von innen sah das Hospital beinahe aus wie ein gewöhnliches Krankenhaus. Aber eben nur beinahe. Es gab mehr Holzvertäfelungen und weniger steril-grün angestrichene Wände, ein wenig wie in einem alten Herrenhaus. Außerdem war der Betrieb weniger hektisch als in anderen Krankenhäusern. Das Maß an moderner Technik, das Lara hier sah, war jedoch sicherlich untypisch für die Stadt. Doch genau wie in einem gewöhnlichen Krankenhaus gab es murrende Patienten und noch lauter murrende Besucher, gehetzte Ärzte und genervte Schwestern – wenn vielleicht auch nicht so viele wie woanders.
    Lara ging zur Information und fragte nach der Zimmernummer ihres Großvaters, die ihr auch tatsächlich von einer freundlichen Sprechstundenhilfe ohne Aufbegehren verraten wurde.
    Zimmer 311 lag im dritten Stock an der Außenwand und wirkte eher wie ein kleines, gemütliches Kabuff, in das sich ein Künstler zum Dichten oder Musizieren zurückgezogen hatte, als ein Krankenzimmer. Henry McLane saß aufrecht im Bett und las in einer Ausgabe des Scotsman . Als Lara zur Tür hereinkam, musterte er seine Enkelin über den Rand der Zeitung und seiner Lesebrille hinweg und begann, über das ganze Gesicht zu strahlen.
    Lara umarmte ihn. Lang und kräftig, bis ihr Rücken der Meinung war, sie hätte sich nun lange genug zu ihrem Großvater hinuntergebeugt.
    Â»Wie geht es dir?«, wollte sie wissen.
    Â»Die Ärzte meinen, es gehe mir den Umständen entsprechend gut. In ein paar Tagen werde ich wieder laufen können. Dann werden wir sehen, was von unserem Leben übrig geblieben ist.«
    Â»Was meinst du?«
    Â»Na ja, ich werde sicherlich meinen Job verlieren, und mit meiner Rente und

Weitere Kostenlose Bücher