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Ravinia

Titel: Ravinia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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Stadt lasteten, ja etwas auf sich. Die Stadt der Waisen. Die Stadt, in der ein großer Teil der Leute allein war. Allein, das hieß ohne Familie. Das hieß, dass man entweder die Stadt und ihre Bewohner zu seiner Familie machte, oder in Europa oder Amerika oder sonst wo das Los derer teilte, die eine besondere Begabung hatten: Einsamkeit. Wer eine Träne um den armen Kommissar vergoss, war nicht zu erkennen. Nicht an diesem Tag, an dem die Welt selbst um einen Fehler zu weinen schien und mit ihren Tränen auch diejenigen all der anderen fortwusch.
    Und dann ereignete sich die erste Überraschung eines bisher verräterisch anmutenden Tages.
    Nachdem Father Garbow den Segen gesprochen hatte und die Trauergemeinde sich allmählich auflöste, um in Richtung Stadt zu gehen, wählte der Junge Lee einen der beliebigen, verschlungenen Pfade, die um die Gräber des Friedhofs mäanderten, tief in Gedanken versunken, die Hände in den Taschen seiner Bluejeans.
    Lara wandte sich gerade von Mr Coopers Grab ab, wo sie lange hinter den Trauernden angestanden hatte, um einen letzten kurzen, stillen Moment – gemacht aus Ehrfurcht und Verwunderung – mit Mr Cooper zu teilen.
    Â»Nein!«, hallte ein Schrei über den Friedhof, zerschnitt den Regen wie Glasscherben ein seidenes Tuch.
    Lee ging in die Knie, völlig ungeachtet des elenden Wetters, das über der gesamten Szenerie tobte. Das Wasser musste eiskalt durch seine Hosen dringen, doch er schien es nicht zu spüren.
    Lees Lippen bewegten sich weiterhin, auch wenn Lara ihn nun nicht mehr hören konnte, so leise flüsterte er, kniend an einem Grab. In diesem Moment waren auch schon Berrie und Geneva herbeigestürzt, um Lee die Hände auf die Schultern zu legen und ihn aus dem Dreck zu ziehen. Selbst der ruhige Tom, der sich stets etwas abseits der Menge gehalten hatte, setzte sich in Bewegung.
    Als Lara endlich aus ihrer Starre erwachte, hatte die Nachtwächterin den zitternden jungen Draufgänger, dessen Gesicht vor Schrecken, vor Verwunderung – ja vor was eigentlich? – nicht wiederzuerkennen war, bereits auf die Beine gestellt. Er schluchzte. »Nein!«, wiederholte er immer und immer wieder, wenn der Regen und die Tränen der Fassungslosigkeit es erlaubten.
    Während Geneva und Berrie ihn davonschleppten, wurde Lara endlich die Ursache von Lees Ausbruch bewusst: Da war ein schlichtes Grab, geschmückt mit einem kleinen Grabstein. Edel, marmoriert, aber trotz seiner Auffälligkeit kaum größer als ein Wegstein. Auf ihm stand in verschlungenen Lettern William and Dorothea Crooks .

    Ein tröstender Arm konnte ein Rettungsboot sein. Allerdings auch ein weiterer Baum in einem überfüllten Wald.
    Lee hatte das Schluchzen schnell eingestellt. Eigentlich passte es auch nicht zu ihm, fand Lara. Nicht dass sie dem alten Duktus, dass Jungen niemals weinen sollten, erlegen gewesen wäre. Es war vielmehr so, dass es Personen gab, denen es gegeben war, mit Unzulänglichkeiten, mit Problemen oder mit Trauer umzugehen, indem sie Tränen vergossen. Lee gehörte jedoch für Laras Geschmack nicht dazu. Lee war eher jemand, der die Welt nicht mehr an sich heranließ, wenn es ein Problem gab, wenn er die Kontrolle verlor. Lara war der Ansicht, es passte besser zu Lee, wenn dieser sich in einem solchen Falle eigenbrötlerisch in eine Ecke des Lebens zurückzog. Und genau so verhielt es sich auch. Vor allem Berrie versuchte, sich nach bestem Wissen und Gewissen um ihren Lehrling zu sorgen, auch wenn dieser sichtlich seine Ruhe haben wollte.
    Sie waren im Rondell, im Haus der Kreidefrau, in dem Lee ein altes Bettgestell in einer Ecke bezogen hatte. Es sei nicht für lange, hatte Berrie versichert, denn an ihrer Privatsphäre läge auch ihr etwas. Sobald Lee eine andere Möglichkeit als Unterkunft gefunden hätte, würde er ausziehen müssen. Und Lee und Berrie waren sich hier vollkommen einig. Ob die Kreidefrau so lange nicht lieber bei Francesco übernachtete, wusste Lara nicht. Aber eigentlich wusste sie ja noch nicht einmal, ob die beiden überhaupt ein Paar waren. Es gab da Blicke, die sie Geneva in der Bibliothek zugeworfen hatte, die Lara daran zweifeln ließen, ob sich Berrie überhaupt zum anderen Geschlecht hingezogen fühlte. Doch vermutlich waren das alles nur pubertäre Spinnereien, Lara wischte sie mit einer schnellen Bewegung im Geiste weg.

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