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Ravinia

Titel: Ravinia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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Bails hätte wahrscheinlich auch sein Leben für dieses Geheimnis gegeben – immerhin war es ohne dieses auch nichts wert.
    Frisch über die Umstände in Kenntnis gesetzt, traf er sich ein weiteres Mal mit Ma’Haraz und wurde in den großen Plan eingeweiht, der genau in dem Moment in Kraft treten sollte, in dem sich jemand fand, der das Gedicht zu lesen imstande wäre.
    Es war so überaus teuflisch perfekt durchdacht, dass es Marcion um ein Haar eine Schicht aus Eis auf die Haut gezaubert hätte. Der Wiener Barpianist, das Synästhesin, der kränkelnde Junge des Nachtwächters, Ma’Haraz’ spektakuläre Experimente mit den Lichtgeistern und Rubens ausgeklügelter Lebenserhaltungsstuhl – alles schien nur auf ein einziges, fehlendes Puzzleteil zu warten. Und schließlich fand sich dieses Puzzleteil, passgenau, ohne schabende Ecken und Kanten, in der Person von Lara McLane.
    Als Bails ihn an jenem verhängnisvollen Abend aufsuchte und ihn anflehte, nichts, absolut gar nichts in Richtung Befreiung von Roland Winter zu unternehmen, kam es zu dem Streit, an dessen Ende Marcions Seele einen hässlichen Riss davontragen sollte.
    Bails bot ihm an, den gezahlten Preis zu erstatten, bettelte, gestand seinen eigenen Fehler ein, überhaupt jemals über Roland Winter gesprochen zu haben. Als Marcion schließlich ablehnte und ihm obendrein gestand, dass es bereits zu spät war, ging Bails’ Gewissen mit sich selbst ins Gericht. Woher ausgerechnet der immer so gemäßigte Bails plötzlich ein Messer hatte, wusste Marcion nicht. Das Einzige, das sich in aller erschreckenden Deutlichkeit in seine Erinnerung gebrannt hatte wie ein hässlicher, unbeugsamer Blutfleck auf einem weißen Laken, war das Gesicht des alten Bails, als dieser am Ende des Gerangels über die Brüstung stürzte und in den Tiefen der Stadt verschwand.
    Den Aufprall hörte Marcion schon nicht mehr, da war er bereits zurück in Amsterdam. Doch wer einmal die Schwelle zwischen dem richtigen Weg und dem einfachen hatte verwischen lassen, dem fiel dies in Zukunft immer leichter.
    Das Schicksal nahm seinen Lauf und verwüstete das Innere von Marcion de Huhl in ungeahntem Ausmaß.
    Erst die Schläge und Tritte des verzweifelten Francescos, der seiner Ohnmacht nicht anders Luft zu machen gewusst hatte, begleitet von den unendlich schmerzhaften Schreien eines Mädchens, dessen Leben ein Herbstregen war, hatten eine läuternde Wirkung auf Marcions Geist gehabt. Er hatte endlich die täuschenden Schönmalereien, mit denen Ma’Haraz die Kammern seines Verstandes angestrichen hatte, abstreifen können. Zu spät. Er hatte sich schuldig gemacht, hatte andere zerstört, war in maßlosem Übereifer aufgegangen. Aber am meisten war er vor sich selbst schuldig geworden, was vielleicht die bitterste Erkenntnis von allen war.
    Nun kauerte er hier, in dem absurden Versuch seines Selbsterhaltungstriebes, die Absolution zu erhalten. Aber der alte Mann hatte recht, und so drang es nun auch langsam in die von Angst und Selbsthass zerfressenen Kammern seines Verstandes vor: Es gab kein Zurück, kein Wiedergutmachen.
    Das Einzige, was ihm blieb, war Schadensbegrenzung in größtmöglichem Umfang. Ungeachtet dessen, wie sie für ihn ausgehen mochte.
    Anschließend würde er Ravinia den Rücken kehren. Seiner Passion, an der er gescheitert war. Vielleicht würde er nach Indien gehen? Er wusste es nicht, nur dass dieser Ort weit weg von alldem hier liegen würde.
    Â»Marcion?«
    Der alte Mann riss ihn aus seinen Gedanken.
    Â»Schon gut, schon gut«, winkte Marcion ab und rappelte sich mühsam auf. Die gebrochene Rippe mochte letztlich noch die erträglichste Strafe sein für seine Taten. Die eigentliche Strafe würde sich in seinem Herzen vollziehen, und am Ende sollte es diese sein, die ihm am meisten Schmerzen bereiten würde.
    Â»Ich weiß, was ich zu tun habe.«
    Er humpelte in die entgegengesetzte Richtung davon.
    Â»Richtig oder einfach?«, rief ihm der Alte hinterher.
    Â»Richtig geht nicht mehr«, gab Marcion zur Antwort, ohne stehen zu bleiben, ohne sich umzudrehen. »Aber vielleicht kann man noch am Ruder reißen.«
    Keine weiteren Fragen. Nur das bittere Zitat aus einem der größten Gedichte sollte Marcion noch nachhängen, wie herber Tannenduft im kühlen Schatten eines Waldes:

    Wo aber ist einer,
    Um

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