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Ravinia

Titel: Ravinia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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Mechanikerviertels, liegt unsere kleine Werkstatt in der Gobelingasse Nr. 3. In einem winzigen Haus, vor dessen Eingang ich gerade sitze und schreibe. Hier wird Dein Zuhause sein. Dort, wo sich jetzt im Sommer eine unglaubliche Hitze unter dem Giebel staut. Und wer weiß, vielleicht wirst Du ja auch eine Mechanikerin. Gute Voraussetzungen für ein besonderes Talent scheinen ja in der Familie zu liegen. Obwohl Arthur und ich jeweils die Ausnahmen bilden, denn Deine Großeltern haben ganz andere Berufe. Deinen Großvater Abraham wirst Du leider nicht mehr kennenlernen. Das ist wirklich so schade, denn Du hättest ihn sicher sehr gemocht. Aber Deine Großmutter Elisabeth ist eine phantastische Schreiberin. Deine anderen Großeltern – Henry und Martha – sind begnadete Folkmusiker. Sie sind so offen und freundlich wie Schwiegereltern nur irgend sein können und ganz, ganz sicher werden sie alle hervorragende Großeltern abgeben.
    So, Dein Vater kommt gerade herunter. Wir müssen zur Feier des Tages noch eine Kleinigkeit essen gehen. Bei Dean’s soll ein Lehrling begonnen haben. Mit einem komischen Namen. Aber der Kerl soll unvergleichlich gute heiße Schokolade machen. Genau das richtige Getränk zu einem leckeren Stück Kuchen. Seltsam, wie sich die Menschen ändern. Ich habe früher nie verstanden, warum Menschen an heißen Sommertagen Kaffee trinken und Kuchen essen gehen. Aber Dein Vater drängelt schon, und schließlich muss ich ihn noch davon überzeugen, Dich nicht ständig »Locke« zu nennen.
    Die liebsten Grüße,
    Deine Mama

    PS : Hihi, ich habe mich zum ersten Mal selbst »Mama« genannt.

    August 1993

    Meine liebe Lara!
    Es ist immer noch unglaublich, dass Du bald – aller Voraussicht nach im Januar – endlich ganz bei uns sein wirst. Mein Bauch wird langsam ein klein wenig runder, und Jeane und Dorothea haben heute zum ersten Mal versucht, mir Arbeit abzunehmen. Du wirst es kaum glauben, aber wenn Du schwanger bist, glauben die Leute gleich, Dich wie ein rohes Ei behandeln zu müssen (wie ein unzurechnungsfähiges rohes Ei). Dabei will ich die Arbeiten an der Turmuhr doch sogar noch selbst beenden. Ich denke, es wird auch gar nicht mehr so lange dauern.
    In der Zwischenzeit schreibe ich Dir aber, wie Dein Vater und ich uns kennengelernt haben.
    Es war einer jener Herbsttage, welche die Bäume mit allen Farben überziehen, die einen mit Sehnsucht an den Sommer zurückdenken lassen und in ihrer goldenen Umarmung vom Winter künden. Man hatte zur Generalversammlung der Mechanikerzunft eingeladen, und sowohl meine Meisterin Alisha Folders als auch der Meister Deines Vaters – Baltasar Quibbes – hatten beschlossen, ihre Lehrlinge mitzubringen. Wir mussten feststellen, dass wir die einzigen waren. Nicht nur die einzigen Lehrlinge, die der Versammlung beiwohnten, nein, wir waren die einzigen Schlüsselmacherlehrlinge in jener Zeit. Es gab außer uns nur noch Ruben, der mit Deinem Vater zusammen lernte, und Julian Miller, einen jungen Amerikaner. Wir vier waren allein.
    Und wie es junge Menschen nun einmal in ihrem Übermut tun, gedachten wir, den Umstand aufs Kräftigste zu feiern. Wir tranken den ganzen Abend über Porterbier im Stein’s, setzten uns anschließend singend auf die Zinnen der Stadtmauer und starrten in den flirrenden Morgen, der unsere seltsame Stadt umgibt.
    Dein Vater ist lustig. Das heißt, er kann lustig sein, wenn man ihn dazu bringt. Und wenn man ihn einmal so weit hat, kann er ein ganzes Lokal unterhalten. Dabei ist er in keiner Weise arrogant oder überheblich, etwas, das ich sehr an ihm schätze und das mir sofort aufgefallen war. So beschlossen wir in jenen frühen Stunden, dass wir Mechanikerlehrlinge, die wir doch so furchtbar wenige waren, uns regelmäßig treffen sollten. Wir konnten über dieselben Dinge Witze machen und hatten dieselben Sorgen und Nöte. Du musst wissen, Lara: Wer in Ravinia lebt oder mit der Stadt zu tun hat, der sammelt langsamer Freunde, als andere Menschen es vielleicht tun. Dafür sind diese Freundschaftsbande umso stärker, und wir waren dankbar, dass es so war.
    Arthur und ich begannen allerdings bald, uns auch ohne die anderen zu treffen. Wir redeten, verbrachten ganze Nachmittage in Arthurs kleiner Wohnung in Sciennes, stellten spaßige Theorien auf, wie man die Weltherrschaft an sich reißen könnte

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