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Ravinia

Titel: Ravinia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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freie Hand, ein reicher Gönner hatte verfügt, man dürfe nirgendwo an Kosten sparen. Wer dieser geheimnisvolle Gönner ist? Das weiß niemand so genau. Manche munkeln, er sei aus den Kreisen des Stadtadels, andere wiederum erzählen sich, er wohne gar nicht in Ravinia, er habe die Stadt lediglich gern. Wie auch immer es gewesen war, am Ende betraute man mich mit dieser Aufgabe. Die Begründung lautete, ich sei das vielversprechendste Talent im Umgang mit mechanischen Konstruktionen. Ich fühlte mich unheimlich geehrt und habe mit stolz geschwellter Brust angenommen. Zur Unterstützung habe ich mir dann Jeane Nolte und Dorothea Crooks ins Boot geholt, zwei junge Uhrmacherinnen, die ich sehr schätze und die mir während des letzten Jahres teure Freundinnen geworden sind.
    Und jetzt ist sie endlich in Betrieb. Die Zeiger glänzen noch, weil sie mit Kupfer beschichtet sind, aber das wird bald vom Grünspan erobert worden sein. Wir waren der Meinung, die kupfergrünen Zeiger würden zu der alten Kathedrale passen.
    Es gab ein riesiges Fest auf dem Marktplatz. Robert Garbow hat eine Rede gehalten und mich und Jeane und Dorothea viel zu heftig gelobt, während wir peinlich berührt neben ihm auf der Holzbühne stehen mussten, mit riesigen Blumensträußen in den Händen. Als die Festansprache beendet war, stürmte als Erstes unser Zunftmeister Howard Evans auf uns zu und hat uns beinahe erdrückt vor Stolz, er hat sogar unsere Männer zur Seite gedrängt. Dabei ist Evans der mit Abstand großartigste Uhrmacher, den ich kenne, und es bedeutet mir sehr viel, dass er unsere Arbeit für so gut hält.
    Anschließend gab es einen großen Jahrmarkt auf dem Marktplatz, der nun in gewisser Weise wieder zwei Uhrentürme hat – neben unserem Mechanikerhauptsitz meine ich.
    Ach, es ist schon herrlich, diese Zeit. Wenn es doch nur immer so einfach wäre.
    Rabbi Friedmann kam ebenfalls und gratulierte uns. Er sagte, er überlege, ob die große Jacobs-Synagoge nicht auch eine Uhr gebrauchen könne, und zwinkerte uns zu. Seine Gemeinde verkaufte herrliches Gebäck. Ravinia ist wie eine Weltreise. Aus allen Ecken und von allen Enden der Welt kommen die Menschen und bringen ihre Kulturen mit. Auch wenn die Stadt unbestreitbar einen immensen Einfluss aus dem Europa der Alten Welt hat, so beginnt es sich doch mittlerweile zu vermischen. Selbst wenn man im oberen Stadtviertel das ein oder andere Mal die Nase rümpfen wird, aber die Menschen in Ravinia haben eine freiere Grundhaltung als woanders. Vielleicht liegt es daran, dass Ravinia niemandem gehört?
    Ich weiß es nicht, aber ich freue mich über einen goldenen Spätsommer, der – wenn er meinem Wunsch entspräche – in einen goldenen Herbst übergehen wird.
    Oh Lara, was sind dies doch für wunderbare Zeiten.
    Deine Mama

    Oktober 1993

    Ich scheine immer nur von Festen in dieses Tagebuch zu schreiben. Das ist hoffentlich ein gutes Zeichen für eine gute Zeit.
    Mittlerweile machst Du meine Figur endgültig zunichte, meine Kleine. Alleine das Anziehen von Hosen wird immer mehr zur Kunst, und wenn mich Dein Vater morgens dabei beobachtet, lacht er über mich. Er sagt zwar, dass er sich lediglich freue, aber ich glaube, er macht sich trotzdem darüber lustig. Na gut, er freut sich natürlich auch auf Dich, genau wie ich auch. Aber er ist ja nun einmal nicht schwanger! Obwohl ich mir da nicht so sicher bin. In den letzten Wochen kocht er ständig heiße Schokolade. Morgens, bevor ich aufstehe, setzt er sich schon damit in die Küche und liest, und dann nimmt er sich auch noch welche mit runter in den Schlüsselladen.
    Dieses Wochenende waren wir in Prag.
    Die tschechische Seite der Familie – also die Verwandten Deines leider schon gestorbenen Großvaters Abraham – hatte die ganze Familie anlässlich des Sukkot , des Laubhüttenfestes, nach Prag eingeladen. Und da wir uns im Moment ja selbst auf unser neues Familienleben einstellen, haben wir einfach zugesagt. Es ist schon praktisch, mit einem Schlüsselmacher verheiratet zu sein, denn man kann sich die Flugtickets sparen.
    Es war eine schöne Feier. Wir waren auf dem Anwesen meines Onkels Laszlo, der nicht nur ein riesiges Haus im Villenviertel der Stadt besitzt, sondern auch einen schönen Dachgarten. Der perfekte Ort also, um eine Laubhütte zu errichten. Man kann tatsächlich die

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