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Ravinia

Titel: Ravinia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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Junge, er ist noch ganz klein, genauso wie Du es vor gut einem halben Jahr warst. Dabei bin ich völlig verblüfft, wie groß Du in der kurzen Zeit schon geworden bist, aber das geht vermutlich allen Eltern so.
    Die Stadt ist ruhig, offenbar hat das Einschreiten von Lord Hester Wirkung gezeigt.
    Alles brütet unter einer sengenden Hitze vor sich hin. Nicht nur hier, sondern auch in Edinburgh. Es ist fast angenehm, wenn ich unten in der kühlen Werkstatt arbeite, während Du in einem Schaukelkorb danebenstehst und mit Deinem Froschmobile spielst.
    Außerdem hat Dein Vater nun endlich mit seiner Marotte um die heiße Schokolade aufgehört. Dafür ist jetzt Eistee seine Spezialität. Vielleicht sollte ich ihm einmal einen Kochkurs schenken? Dann kann er andere Dinge kultivieren. Zum Beispiel ein gutes Abendessen …
    Deine Mama

    September 1994

    Ich liebe den Spätsommer.
    Diese goldene Zeit, die sich keiner anderen Jahreszeit unterordnen will. Wenn die Gedanken einen Moment lang schweigen. Wenn die Welt Atem holt für den nächsten Herbst. Es gibt nie besonders viele dieser wundervollen Tage, aber ich genieße sie immer in vollen Zügen.
    Dein Vater weiß, wie sehr ich diese Zeit liebe. Nicht nur, dass mein Geburtstag meist auf einen solchen Tag fällt, nein, es gibt mir einfach ein Gefühl von Geborgenheit.
    Wir sind nun schon seit zwei Tagen auf der Insel Skye und bleiben auch noch zwei weitere. Zeit, um in unserem ersten Urlaub seit Jahren etwas in dieses Buch zu schreiben.
    Wir haben ausgedehnte Wanderungen durch die Cuillin Hills unternommen, bei denen Du abwechselnd mit einem großen Tuch vor meinen Bauch oder den Deines Vaters gespannt warst. Na gut, ich gebe zu, dass Du die meiste Zeit vor den Bauch Deines Vaters gebunden warst, da Du mittlerweile ganz schön schwer geworden bist. Aber einen Kinderwagen mitzunehmen, lohnt auf den bergigen Wandertouren nicht.
    Gestern haben wir mit einem Mietwagen einen Abstecher zur Destille im Südwesten gemacht. Ich vermisse den malzigen Geruch aus meinen Kindertagen am Spey manchmal, dort gibt es viele Destillen, und die Luft ist ständig erfüllt von diesem leicht süßen Malzaroma. Dein Vater hat natürlich nicht Nein zu diesem Vorschlag gesagt und sich durch die Destille führen lassen.
    Jetzt sitze ich hier am Fenster unseres kleinen Hotels, das einsam an einem kleinen Küstenabschnitt nördlich von Portree liegt. Die Besitzer sind John und Hannah, zwei Amerikaner, die aus Liebe zur Insel bereits vor Jahren beschlossen haben, hier ein wirklich süßes Hotel zu eröffnen. Die beiden haben keine Kinder, weshalb Du quasi ihre kleine Prinzessin bist. Außerdem ist Hannah die vermutlich beste Köchin der Welt. Sie bereitet Schellfisch besser zu, als jede Schottin es könnte. Oh, das dürfte ich Deine Großeltern, die McLanes, nicht hören lassen.
    Ich freue mich auf die nächsten Tage.
    Deine Mama

    Oktober 1994

    Es gibt wieder Turbulenzen in Ravinia.
    Das Rabenblatt hat vor einigen Tagen einen Artikel gedruckt, in dem Roland Winter erneut von seinen widerlichen Plänen berichtet hat. Er ist tatsächlich der Meinung, wir mit unseren Talenten sollten uns über den Rest der Welt erheben. So ein Blödsinn. Aber nur deshalb hätte die Zeitung dies ja nicht veröffentlicht. Nein, Roland Winter hat öffentlich Lord Hester herausgefordert und die Herrschaft über Ravinia eingefordert. Unfassbar, was? Dabei ist Lord Hester doch gar nicht unser Monarch, im Gegenteil, die meisten Leute bekommen kaum etwas von seiner Existenz mit. Niemand weiß so richtig, was er überhaupt den ganzen Tag tut. Macht über die Geschehnisse in der Stadt hat – wenn überhaupt – der Rat. Aber auch der ist kein diktatorischer Zirkel, sondern wird von uns gewählt. Jede Zunft bestimmt eines ihrer Mitglieder zum Ratsvertreter. Außerdem gibt es von Zeit zu Zeit Sondersitze, wie zum Beispiel einen für das Mondvolk von Epicordia, denn die betrifft in gewisser Weise ja auch was hier vor sich geht.
    Wenn Du mich fragst, ist dieser Winter nun endgültig durchgedreht, und ich denke, Lord Hester wird dem schon ein Ende bereiten. Er hat es versprochen.
    Viel erstaunlicher ist, dass William Crooks und einige andere offenbar der Meinung sind, man müsse aktiv gegen Roland Winter vorgehen. Er war gestern Abend hier und hat uns von seinen Plänen für einen aktiven Widerstand gegen

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