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Ravinia

Titel: Ravinia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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Zeit rekonstruierte.
    Sie hatte geweint, während sie die Aufzeichnungen ihrer Mutter gelesen hatte. Sie hatte den Tee kalt werden lassen, den Father Garbow ihr bereitgestellt hatte, und er hatte ihn sanft und wortlos wieder weggeräumt.
    Auch er hatte geschwiegen.
    Die ganze Zeit.
    Hatte in der Küche eine Ausgabe des Rolling Stone Magazine gelesen und leise Baklava über einer Tasse Mokka, die mit Kardamom gewürzt war, gegessen.
    Nachdem Lara das Tagebuch gelesen hatte, hatte sie nicht mehr ein noch aus gewusst. Lange hatte sie ihren Kopf in die Schulter des dicken Priesters vergraben, der sie hatte gewähren lassen. Einfach so, denn Father Robert Garbow war ein guter Seelsorger. Schon immer gewesen. Er hatte noch nicht einmal ihren Kopf getätschelt oder ähnliche unbeholfene Gesten versucht.
    Er hatte sie lediglich festgehalten.
    Schließlich war Lara gegangen, und er hatte ihr ein Versprechen mit auf den Weg gegeben: »Ich war ein Freund deiner Eltern, also bin ich auch dein Freund, Lara. Ich halte dir meine helfende Hand hin, allezeit, wenn du sie brauchst.«
    Es hatte geklungen wie ein alter Segen aus der Kirche.
    Lara hatte ihm ein dankbares Lächeln geschenkt und war in den einsetzenden Nieselregen des Nachmittags hinausgegangen. Ziellos.
    Schließlich war sie zurückgekehrt ins Hospital und hatte ihrem Großvater das Buch vor die Brust geknallt, fluchend, fragend, unentschlossen.
    Â»Warum hast du mich angelogen?«, hatte sie geschrien.
    Â»Um dich zu schützen, Lara«, war die besonnene Antwort gewesen.
    Â»Und dabei habe ich gar nicht so schrecklich viel gelogen. Es war an jenem Abend tatsächlich so, dass deine Eltern und deine Großmutter ins Theater sind und ich keine Lust hatte, sodass es mir zufiel, auf dich aufzupassen.«
    Er wandte betreten den Kopf zur Seite und schaute aus dem Fenster.
    Â»Du hättest sie so nicht sehen wollen. Es waren die ersten Morde, die Winter gezielt begangen hat. Zuvor hatte er Leute entführt, Häuser zerstört, Terror verbreitet. Aber gezielt jemanden ermordet, hat er erst an diesem Abend.
    Aber danach gab es kein Halten mehr. Das Morden ging weiter.
    Als Reaktion darauf entschlossen sich einige der alten Meister auf eigene Faust zu handeln. Das Ergebnis kennst du ja leider nur zu gut.«
    Lara hatte nichts weiter zu sagen vermocht. Sie hatte das Tagebuch wieder an sich genommen und war erneut hinaus in den Regen gegangen.
    Nach einiger Zeit des erneuten ziellosen Herumstreifens in der Stadt war sie schließlich zum westlichen Tor gelangt und hatte ein weiteres Mal an diesem Tag auf die Kulisse des Wäldchens und des Friedhofs von Ravinia geblickt – und auf einmal hatte sie gewusst, was sie zu tun hatte.
    Sie eilte ins Rondell und zeigte Lee, was sie erfahren hatte. Schließlich gingen sie hinauf zur Burg, um allein zu sein. Um allein und ungestört über der Welt zu sitzen – wie traurige Götter.
    So hatte auch Lee zum allerersten Mal ein wenig mehr über seine Vergangenheit erfahren, auch wenn es nur die indirekten Beschreibungen einer Frau waren, die ihm noch fremder war als seine eigene Mutter.
    Â»Danke!«, sagte er schließlich. Einfach nur Danke.
    Eine Weile saßen sie dort und hörten dem Rauschen des Regens zu, der an Laras Fenster vorbei in die Tiefe stürzte.
    Selbst der ungeduldige Rabe bewahrte die Stille wie einen Schatz.
    Schließlich klopfte es an der Tür.
    Â»Ja?«
    Tom trat ein, die ansonsten so zotteligen schwarzen Haare klebten klatschnass an seinem Gesicht.
    Â»Hier bist du«, sagte er erleichtert, als er Lara entdeckte. »Nachdem du so lange nicht in der Bibliothek aufgetaucht bist, habe ich nach dir gesucht. Ich dachte, du hättest dich vielleicht verlaufen. Schließlich bin ich noch einmal ins Hospital gegangen.«
    Mehr brauchte er an dieser Stelle nicht zu sagen. Stattdessen tat er etwas, was dem mürrischen, blassen und oft so unzugänglichen Tom eigentlich gar nicht zu Gesicht stand, aber Lara bewunderte die Aufrichtigkeit, die in dieser Geste lag. Er hockte sich – triefend wie er war – vor die Luftmatratze und legte seine Hand auf Laras.
    Â»Lara«, sagte er. »Vielleicht hört es sich völlig albern und pathetisch an, aber du wirst immer Freunde haben, die sich um dich bemühen.«
    Es klang tatsächlich etwas unbeholfen aus Toms Mund.
    Â»Ich kann es nicht leiden, wie mancherorts der Begriff

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