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Ravinia

Titel: Ravinia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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Vögel in den Bäumen, die Regenwürmer im Erdreich und eine unschätzbare Anzahl von Kaninchen die einzigen lebenden Wesen hier. Außer ihnen gab es nur noch die wenigen Freiwilligen der Friends of Highgate Cemetery, die hier und da den Friedhof in Schuss zu halten versuchten. So wie sie.
    Ihre Haare hatte sie zu einem praktischen Dutt aufgesteckt, und so stiefelte sie mit einer grünen Latzhose und ihrer Schubkarre durch die Egyptian Avenue hinauf zum Circle of Lebanon.
    Sie tat ihre freiwillige Arbeit nun schon so lange Jahre, und sie tat sie immer wieder gerne. Die Fülle der Grabmonumente und deren verwitterte Macht über das Totenreich zogen sie beinahe ebenso an wie die Ruhe, die sie hier zwischen den Katakomben, Skulpturen und Gruften fand. Hier mitten im Wald, der von Jahr zu Jahr mehr vom Highgate Friedhof in Beschlag nahm. Er wühlte sich durch die Erde, umschlang die Gräber mit seinen Wurzeln und strich alles mit grünem Moos an. Der Wald war ein Flüstern. Und es war gut so, dass nur der Wald an diesem Ort flüsterte.
    Waren die Blätter grün und der Himmel tiefgrau, dann stellte sich ein unwirkliches Gefühl von Geborgenheit ein, das die alte Frau sehr genoss, da es für sie keine andere Geborgenheit mehr gab auf der Welt.
    Hier konnten ihre Gedanken schweigen. Hier fand sie die Ruhe, die sie vor den Schrecken ihrer Vergangenheit schützte.
    Sie hatte einmal gedacht, ihr Leben sei wie ein Herbstregen. Man bekam mit dem falschen Schuhwerk zwar nasse Füße, aber man konnte sich am Ende immer wieder vor dem flackernden Kamin aufwärmen und der Gemütlichkeit der eigenen Existenz lauschen.
    Doch einst war der Herbstregen in einer Sturzflut durch das Dach gebrochen. Seitdem war nicht nur das Dach zerstört und das Haus verwüstet, nein, es hatte aufgehört zu regnen in ihrem Leben, obwohl sie den Regen doch so geliebt hatte.
    Und schließlich, nachdem die Schmerzen über die Verluste begonnen hatten, abzuklingen und dumpfer zu werden, hatte sie auch endlich einen Ort gefunden, an dem sich die letzten Jahre aushalten ließen.
    Ja. Highgate war ihre Heimat. Sie hatte hier im selben Stadtteil ein Haus erstanden, sodass sie bequem zu Fuß die paar Hundert Meter zurücklegen konnte und nicht auf den Lärm und die Hektik des öffentlichen Verkehrs von London angewiesen war, denn Hektik tat ihrem Leben nicht mehr gut.
    Was ihr geblieben war, waren Erinnerungen. Nichts als Erinnerungen und der Versuch, nicht hinzuhören, während sie die Büsche beschnitt oder abends skurrile Fernsehserien verfolgte, in alten Romanen von Jane Austen und George Eliot las und mit Rum verfeinerten Tee trank.
    Ja, es war ein Ort, für den sich die Reste ihrer jämmerlichen Existenz aufzuwenden lohnten, denn hier konnte sie die Dinge nur noch schöner machen. Hier, wo alles so uralt schien, konnte niemand noch etwas zerstören, dazu schien alles zu massiv.

    Manchmal weht ein Sturm durch das eigene Leben. Er pustet und bläst mit aller Gewalt und lässt am Ende oft keinen Stein auf dem anderen.
    Lee und Lara schwiegen sich an.
    Der Rabe Dexter hockte immer noch halb zerzaust auf dem Schreibtisch in Laras Zimmer auf der Burg Ravinia und blickte abwechselnd in das eine und das andere Gesicht, in der Erwartung, dass sich auf einem vielleicht eine Reaktion zeigen würde.
    Er hatte Pech, die beiden Teenager schwiegen weiterhin beharrlich.
    Sie saßen mit dem Rücken an die Wand gelehnt nebeneinander auf der Luftmatratze. Zwischen ihnen lag das Tagebuch von Layla McLane, das diese bis in den verhängnisvollen November vor anderthalb Jahrzehnten hinein geführt hatte. Ihre Handschrift war schön gewesen. Gerade und gut leserlich, aber nicht exakt oder in irgendeiner Form markant. Es war eine Frauenhandschrift gewesen, ohne harte Kanten und mit einem Füllfederhalter mit wechselnder Tintenfarbe geschrieben. Offenbar hatte sie viel damit geschrieben in dieser Zeit.
    Es war das erste Mal gewesen, dass es für Lara so etwas wie eine Verbindung zu ihren Eltern gegeben hatte. Ihre Vorstellung von Arthur und Layla McLane hatte etwas mehr an Kontur gewonnen. Von Lebenslust waren sie offensichtlich beide zutiefst durchsetzt gewesen, und es grämte das Mädchen mit den bernsteinfarbenen Haaren, dass es nach seinen Eltern suchen und forschen musste wie eine Archäologin, die sich mit rätselhaften Funden von fernen Orten das Leben in früherer

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