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Ravinia

Titel: Ravinia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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Winter erzählt.
    Dein Vater hat ihm ganz schön die Meinung gegeigt, und sie sind nicht sehr friedlich auseinandergegangen. Ganz ehrlich, so wütend habe ich Deinen Vater noch nie erlebt. Er hat William vorgeworfen, verantwortungslos zu handeln. Die Crooks’ haben doch gerade erst den kleinen Lee bekommen. Wie töricht wäre es von ihnen, sich absichtlich in Gefahr zu begeben. Dein Vater hat William offen gesagt, dass Roland Winter nicht nur ein unberechenbarer Irrer ist, sondern tatsächlich hochgradig gefährlich. Und die Sturmbringer seien keine Truppe von Handlangern, die im Leben sonst nichts zustande bekommen, sondern sie sind teils hochintelligente Leute mit ekelhaft großem Talent und einem scharfen Verstand. Wenn William etwas an der Sicherheit Ravinias liegen würde, sollte er sich zuerst um das Wohl seiner eigenen Familie sorgen.
    Glaub mir, Lara, es war kein schöner Abend gestern. Dieser Roland Winter bringt uns nicht nur um den Schlaf, sondern wahrscheinlich auch um den Verstand, wenn er so weitermacht.
    Ich hoffe, das ist alles vorbei, wenn Du größer bist. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass Du Dir solche Sorgen gar nicht erst zu machen brauchst.
    Deine Mama

    November 1994

    Oh Lara, es wird nicht besser, sondern wirklich, wirklich schlimm.
    Es gibt Entführungen und Überfälle auf die Einwohner Ravinias, wenn sie sich gerade außerhalb der Stadt aufhalten. Nach Ravinia trauen sich die Sturmbringer vielleicht noch nicht, aber es ist schon beinahe wie eine Belagerung. Letzte Woche haben sie Morinho gekidnappt, aber zum Glück bald wieder freigelassen. Der Arme ist völlig verstört. Wir haben ihn gestern im Hospital besucht.
    Ich bekomme langsam Angst um Dich!
    Heute Morgen erst hat das Rabenblatt wieder die Forderung Roland Winters abgedruckt. Reporter sind so begierig nach Sensationen.
    Es heißt, die Nachtwächter hätten beschlossen, auf eigene Faust gegen die Sturmbringer vorzugehen. Ohne Beschluss des Rates. Offenbar ist man in der Wache der Meinung, es sei endlich genug. Viele Bewohner der Stadt begrüßen dies, aber es hat einen faden Beigeschmack von Selbstjustiz, wenn Du mich fragst. Was erreichen wir, wenn wir nicht geschlossen als Gemeinschaft dastehen, sondern uns auf dasselbe Niveau wie die Sturmbringer herablassen? Es muss etwas geschehen, sonst bricht hier bald das totale Chaos aus. Irgendjemand muss doch einen Geistesblitz haben. Irgendjemandem muss doch etwas einfallen, um diesen ganzen Irrsinn zu stoppen.
    Oh Lara.
    Wenigstens eine gute Neuigkeit hat uns in den letzten Tagen erreicht.
    In Baltasar Quibbes, dem alten Meister Deines Vaters, scheint sich der Kampfeswille zu regen. Er hat beschlossen, wieder zu arbeiten und seine Ladentür wieder für jedermann zu öffnen. Außerdem ist er tatsächlich dem Wunsch des Rabbis nachgekommen, den seltsamen blassen Jungen aus Prag als Lehrling anzunehmen. Er soll im Januar bei ihm anfangen. Vielleicht ist das ja ein gutes Zeichen in diesem ganzen Wirrwarr.
    Oh Lara.

13. Kapitel, in dem ein Sturm losbricht.
    Es wütet der Sturm,
    Und er peitscht die Wellen,
    Und die Well´n, wutschäumend und bäumend,
    Türmen sich auf, und es wogen lebendig
    Die weißen Wasserberge,
    Und das Schifflein erklimmt sie,
    Hastig mühsam,
    Und plötzlich stürzt es hinab
    In schwarze, weitgähnende Flutabgründe
    Â  Heinrich Heine
    â€“ Szenenwechsel.
    Die Menschen brauchen die Hoffnung, aber sie glauben an die Furcht.
    Die alte Frau mit der Schubkarre, dem Strohhut und den Gartengeräten summte ein altes Lied vor sich hin, von dem sie sich zu erinnern meinte, dass es für einen alten Film mit Audrey Hepburn komponiert worden war. Doch da war sie sich nicht mehr so sicher. Letztlich war es auch gleich, denn wer immer es geschrieben und wer immer es damals gesungen haben mochte, sie waren alle längst verblichen.
    Tot. Gestorben. So wie die Menschen hier auf dem Highgate Friedhof in London. Zumindest hier im westlichen Teil des Friedhofs, der seit Jahren schon für die Touristen aus aller Welt geschlossen war. Ab und an verirrte sich ein Ästhet, ein Maler oder ein Fotograf hierher, dem auf ein Gesuch hin Einlass gewährt wurde. Einmal in der Woche gab es eine einstündige Führung für Interessierte, die man anschließend allerdings auch höflich wieder vom Friedhofsgelände scheuchte.
    Ansonsten waren die Tiere in den Büschen, die

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