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Ravinia

Titel: Ravinia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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ließ sich auf einen Drehstuhl mit verschlissenem Polster vor einen der Bildschirme sinken.
    Â» Das ist der Mondpalast?«, fragte Lee zweifelnd. »Ziemlich pompöser Name für einen Wohnungsflur.«
    Â» Das hier«, erklärte Tom genervt, » ist der Mondpalast. Er verdient seinen Namen, du wirst gleich sehen, warum.«
    Tom öffnete vorsichtig eine der drei Türen, die von dem einfachen Flur abzweigten. Dahinter war ein Zimmer mit einem Balkon, das in einer völlig anderen Stadt lag. Lara schätzte, dass es Venedig sein musste. Gondeln fuhren auf einem Kanal unter dem Balkon entlang. Gegenüber lagen kalkverputzte Fassaden.
    Â»Das ist seltsam«, murmelte Tom.
    Â»Was ist seltsam?«, hakte Lee nach.
    Â»Dass hier die Sonne scheint.«
    Â»Wieso, überall scheint mal die Sonne.«
    Tom ging wortlos zur Tür am gegenüberliegenden Ende des Raumes und öffnete sie. Dahinter lag ein Raum, der zu einer Wohnung in einer Plattenbausiedlung in Osteuropa zu gehören schien. Aus dem breiten Fenster waren die Betonwände des gegenüberliegenden Hochhauses zu sehen.
    Â»Seltsam«, nuschelte Tom noch einmal nachdenklich zu sich selbst und ging weiter in den nächsten Raum, ein Hotelzimmer mit Blick auf das Meer.
    Â»Was ist das hier?«, fragte Lara schließlich.
    Â»Der Mondpalast«, sagte Tom, dann ließ er sich auf eine Bettkante nieder und fuhr sich mit dem Zeigefinger nachdenklich über die Lippen.
    Â»Dieses Konstrukt«, begann er, »verbindet sämtliche Anwesen von Meister St. James auf der ganzen Welt. Er war immer schon sehr betucht und unterhält überall auf der Welt kleinere Wohnungen. Die Aufgabe seiner Diener – das ist in diesem Fall wohl Potifar – ist es, immer nur die Räumlichkeiten zugänglich zu machen, in denen es gerade Nacht ist.
    St. James hasst das Tageslicht. Das ist ein Tick, den er sich zugelegt hat, als Ma’Haraz ihn so bitter verraten hat.
    Aber wie gesagt, normalerweise scheint hier immer nur der Mond. Deshalb heißt dieser Ort auch Mondpalast.«
    Lee und Lara nickten.
    Â»Woher weißt du das?«, fragte der junge Amerikaner.
    Â»Ich habe die Schlösser und Schlüssel gefertigt«, antwortete Tom. »Es war mein Gesellenstück. St. James hatte Baltasar für die Umsetzung seines Projektes angefragt und der hat es auf mich übertragen.«
    Lara war beeindruckt. Ob sie wohl jemals in der Lage sein würde, etwas Ähnliches zu vollbringen?
    Â»Wie lange ist das her?«, fragte Lee weiter.
    Â»Zwölf Jahre müssten es jetzt sein. Es war auch das letzte Mal, dass ich hier war. St. James ist ein in Selbstmitleid ertrinkender Spinner.«
    Er stand auf und ging zur nächsten Tür, die sich ebenfalls problemlos öffnen ließ.
    Â»Es gibt zweiundfünfzig Räume. Ich fürchte, wir brauchen noch ein wenig, bis wir jemanden finden.«

    Jules Verne hatte einmal eine Vision von einer Reise gehabt, die in achtzig Tagen um die ganze Welt führen sollte.
    Tom, Lee und Lara schafften das in zwanzig Minuten, während denen sie weite Teile des Erdenrunds betraten. Sie waren in Kanada, Brasilien, Südafrika, Australien, China, Japan und in einer Handvoll europäischer Länder gewesen.
    Schließlich stießen sie die Tür zu einer Suite eines Wolkenkratzers in Dubai auf und wurden fündig.
    Â»Mist!«, sagte Lee, während Tom schon zu dem umgestürzten, mit weißem Leder bezogenen Sofa eilte, über dessen Lehne der zerschmetterte Körper eines teiggesichtigen, furchtbar dicken Mannes hing.
    Der Raum sah aus, als hätte man hier eine LSD -süchtige Rockband aus den Siebzigerjahren in der Nacht ihres größten Erfolges einquartiert. Die Möbel waren zerschlagen und wahllos durcheinandergewirbelt. Es war alles zerstört, aber nichts durchwühlt. Nur die Fensterscheiben waren unzerstört, und so musste das Apartment von außen einen wunderbar intakten Eindruck vermitteln.
    Â»Ist er tot?«, fragte Lara unsicher.
    Tom nickte bloß.
    Â»Und es ist wirklich dieser Milton St. James?«, vergewisserte Lee sich.
    Wieder ein Nicken.
    Â»Eindeutig.«
    Lara schauderte. Sie hatte noch nie eine Leiche gesehen, umso mehr erstaunte es sie, dass sie weder in Panik ausbrach, noch dass ihr übel wurde, obwohl das Gesicht des Toten eine von Entsetzen geplagte Grimasse bildete. Blut war anscheinend nicht geflossen, aber die Arme des

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