Ravinia
meinte Tom. »Lee, du bleibst hier. Du suchst Lord Hester und erzählst ihm alles.«
»Hey, warum das?«, protestierte Lee heftig.
»Keine Widerrede. Ich mache einfach die Tür vor dir zu. Lara dahingegen kann ich nicht zwingen, sie hat ein Recht darauf mitzukommen, auch wenn ich es lieber sähe, wenn sie hierbliebe. Geneva und Mr Falter brauche ich, denn wenn es tatsächlich Roland Winter ist, dem wir zuvorkommen wollen, wird es höllisch gefährlich. Und Baltasar«, dabei wanderte sein Blick zu seinem geschlagenen und äuÃerst missmutigen alten Meister, »kennt den Weg.«
Er schloss auf. Hinter der Bibliothekstür lag die U-Bahn-Station South Kensington , durch die Tom und Lara bereits von Valerius verfolgt worden waren, und nacheinander scheuchte Tom die Beteiligten hindurch. Lee probierte es natürlich auch, doch Tom hielt ihn auf und zog die Tür hinter sich zu.
Wütend wirbelte Lee herum und starrte Christopher Davenport zornig an, der hinter seinem Schreibtisch ehrfurchtsvoll das Geschehen verfolgt, aber sich nicht eingemischt hatte.
»Krah«, kam es von hoch über ihnen.
Erschrocken wandten sie beide die Köpfe nach oben, nur um zu sehen, wie aus den obersten Bücherregalreihen ein groÃer, schwarzer Kolkrabe ungestüm zu ihnen hinuntersegelte.
Die tiefgrauen Wolken, die vor dem Einsetzen des Regens am Himmel vorüberfegten, waren eigentlich immer ein wohltuendes Schauspiel für Lara gewesen. Erst recht im Sommer, wenn nach einem dieser verschwitzten Tage, an deren Ende man nur noch Durst verspürte, sich ein Sommergewitter am Himmel zusammenbraute. Man konnte in Cafés oder unter Vordächern sitzen und sich in Sicherheit wiegen.
Doch das Gewittergrollen, das diesen heraufziehenden Sturm ankündigte, wirkte wie der grausige Vorbote eines Unheils. Es konnte einem in keiner Weise Geborgenheit verschaffen.
Der aufkommende Wind schnitt scharf in die Gesichter der kleinen Gruppe, die unter der Führung von einem furchtbar übel gelaunten Baltasar Quibbes die Southwood Lane in Richtung Hampstead Heath hinunterging, nachdem sie sich lange durch den Londoner Underground bis nach Highgate vorgearbeitet hatte. Niemand sagte ein Wort zuviel, alle schlangen die Mäntel fest um den Körper und wünschten sich, sie hätten auch noch ihre winterlichen Schals dabei, die einem wenigstens einen kleinen Schutz vor dem Wind geboten hätten.
Genevas grün gefärbte Locke tanzte vor Lara her, während der Köcher mit dem schlanken Schwert an ihrem Rücken auf- und abwippte. Lara bildete das Schlusslicht der Gruppe.
Links und rechts von ihnen wuchteten sich mächtige Villen aus allen Epochen der letzten Jahrhunderte aus dem Boden, umwachsen von alten Bäumen und verschlungenen Hecken, die noch nicht um das erste Laub des Jahres kämpfen wollten. Die riesige Hauptstadt GroÃbritanniens wirkte stellenweise wie das viktorianische London aus den Büchern von Charles Dickens.
Hier sollte ihre GroÃmutter leben?
Hier lebten doch eher Leute mit viel Geld, sehr guten Beziehungen oder sehr alten Stammbäumen. Und da Lara noch nie davon gehört hatte, dass ihre GroÃmutter überhaupt noch am Leben war, konnte sie es sich nicht vorstellen, sie ausgerechnet hier zu finden.
Sie überholte die anderen im Laufschritt und ging neben Baltasar her.
»Warum?«, fragte sie den Schlüsselmachermeister noch einmal, doch diesmal ruhig und beherrscht, anders als noch vor einer Stunde in der Bibliothek.
»Was heiÃt, warum ?«, knurrte Baltasar, ohne den Blick zu heben.
»Warum hat mir niemand gesagt, dass sie noch lebt?«
Jetzt sah er sie doch an.
»Weil sie dich nicht sehen will«, meinte er schlieÃlich. Einfach so.
Das konnte nicht sein. Wieso sollte ihre eigene GroÃmutter sie nicht sehen wollen? Das ergab keinen Sinn.
»Und wieso will sie mich nicht sehen?«
»Weil sie niemanden sehen will«, antwortete Baltasar knapp. »Sie ist fertig, völlig durch. Sie hat abgeschlossen mit der Welt. Vor vielen Jahren schon. Sie will niemanden mehr sehen. Nach dem Warum musst du sie selber fragen, die Antwort darauf gibt entweder sie dir oder niemand.«
Dabei musste Lara es offenbar bewenden lassen, denn Baltasar Quibbes machte keine Anstalten, ihr weiterhin Rede und Antwort zu stehen. Stattdessen nahm er eine seiner schwarzen, ägyptischen Zigaretten aus ihrer blechernen
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