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Ravinia

Titel: Ravinia
Autoren: Thilo Corzilius
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großen Zünfte und Gilden sahen ihre Künste bedroht. Zumindest die einzigartigen.«
    Â»Wie die Kunst, Schlüssel zu machen, die an andere Orte führen?«, folgerte Lara.
    Baltasar nickte bedauernd.
    Â»Wie zum Beispiel das Schlüsselmachen«, bestätigte er matt.
    Â»Die großen Meister der Alten Zeit reagierten und hielten Rat. Ironischerweise ausgerechnet in Köln, also quasi direkt unter den Augen der Kirche. Aber Köln war eine der größten Städte im mittelalterlichen Europa und außerdem Dreh- und Angelpunkt von Handwerkern und Künstlern aus der ganzen Welt. Vermutlich fiel es also nicht einmal besonders auf.
    Nach langen Überlegungen beschloss man, mithilfe aller besonderen Talente, über welche die Gilden und Zünfte verfügten, einen Ort zu schaffen, der vor dem Neid und der Furcht der Menschen sicher wäre. Einen Ort, der ihren Augen verborgen bliebe.
    Das ist Ravinia.«
    Er schwieg.
    Â»Und wir sind jetzt in Ravinia?«, fragte Lara. Überflüssigerweise.
    Baltasar und Tom nickten.
    Â»Das heißt, hier gibt es noch andere Schlüsselmacher?«
    In Lara wuchs langsam die um sich greifende Flamme der Begeisterung für das heran, was hier geschah.
    Es war Tom, der mit den Erklärungen fortfuhr.
    Â»Ravinia ist eine Stadt. Eine alte Stadt. Sie liegt in einem Fluss, wenn auch niemand genau weiß, wo sich dieser befindet.
    Ja, es gibt hier noch mehr Schlüsselmacher. Und noch viele andere Talente und Dinge, die über die Vorstellungskraft mancher Menschen hinausgehen.«
    Lara zog mit Erstaunen die Augenbrauen hoch.
    Â»Was heißt, niemand weiß, wo die Stadt liegt?«
    Â»Das heißt«, sagte Tom, »dass es niemand weiß. Ravinia existiert nicht auf Karten, nicht auf Satellitenbildern, nicht in Büchern und Aufsätzen, nicht im Internet. Ravinia liegt an keinem Wegesrand, und von hier aus führt der Weg nirgendwohin.«
    Lara sah ihn durchdringend an.
    Â»Aber irgendetwas muss es doch geben«, protestierte sie.
    Tom hielt dem herausfordernden Blick stand. Mühelos.
    Â»Es gibt nichts. Es gibt den Fluss. Ravinia liegt auf einer Insel darin. Natürlich hat man Brücken ans andere Ufer gebaut. Aber niemand, der sich je an einen Ort außerhalb der Sichtweite der Stadt begeben hat, ist jemals wieder zurückgekommen. Niemals. Zumindest kein Mensch.
    Heute nennen wir sie die Verbotenen Brücken . Man hat sie abgesperrt.«
    Â»Aber wie ist das möglich?«
    Â»Schicksal?«
    Â»Hey!«
    Sie begann langsam, diese Antwort zu hassen. »Ich meine das ernst.«
    Â»Ich auch«, sagte Tom und blickte nach draußen.
    Also eine Stadt, dachte Lara. Eine Stadt im Nirgendwo. Ein Ort abseits dessen, was Menschen sich vorstellen können. Damit niemand diejenigen verfolgen kann, die anders sind. Der perfekte Ort, um sich zu verstecken.
    Â»Aber wie kommt man hierher?«, fragte Lara.
    Â»Mit Schlüsseln«, meinte Baltasar.
    Â»Nur mit Schlüsseln?«
    Â»Es gibt keinen anderen Weg.«
    Natürlich. Wenn man nur mit den Schlüsseln hierherkam, konnte man die Zahl der unerwünschten Besucher in Grenzen halten. Außerdem war es schwer, jemanden von der Existenz Ravinias zu überzeugen. Denn welcher Uneingeweihte würde einem schon glauben?
    Baltasar trank den letzten Schluck aus seiner Tasse und stellte sie auf den Tisch.
    Â»Lasst uns auf den Markt gehen«, schlug er vor. »Unsere liebe Lara kann durchaus einen Kulturschock vertragen.«
    Er zwinkerte.

    So sah Lara zum ersten Mal die Stadt Ravinia.
    Nicht ihre Straßen und Gassen mit den uralten wispernden Häusern. Darauf hatte sie im Laufe des Vormittags den einen oder anderen Blick erhaschen können. Nein, diesmal sah sie die Seele der Stadt. Das Sonderbare, das Magische, das Zauberhafte. Das Ulkige, das Urige, das unendlich Schöne. Und natürlich das Verrückte, das Irre und das Düstere.
    Die Seele einer Stadt.
    Sie ist das, was wir atmen, wenn wir uns auf sie einlassen. Sie haucht Edinburgh mit ihrer Urtümlichkeit an, macht Paris zu einem romantischen Flüstern im Frühling und verleiht New York die stählerne Herrschaft über Häuser, die niemals zu wachsen aufhören wollen.
    Und jene Seele war es, die Ravinia wie eine Schatztruhe aus Schmuck und Schatten wirken ließ. Majestät – eines Königshauses würdig – gepaart mit abblätterndem Putz und vom Wind
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