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Ravinia

Titel: Ravinia
Autoren: Thilo Corzilius
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worden.«
    Â»Was ja nicht heißt, dass es unwahr sein muss«, führte Baltasar den Gedanken zu Ende.
    Â»Immerhin ist es sehr wahrscheinlich, dass in dem, was sich die Leute erzählen, ein großer Funke Wahrheit steckt.«
    Und dann zwinkerte er erneut.

    Es war wahrscheinlich die beste Schokolade, die Lara jemals getrunken hatte. Ja, ganz unbestreitbar. Sie schmeckte wie Winter. Nicht grau, kalt und nach Dunkelheit, sondern wie jene Stunden, die man bei wolkenverhangenem Himmel mit einer Decke auf einer Fensterbank sitzen konnte, um ein langes und spannendes Buch zu lesen.
    Dieses Getränk verursachte Geborgenheit. Wie auch immer der kleine, dicke Mann mit dem frechen Grinsen (Baltasar und Tom nannten ihn Melvin, obwohl der Name irgendwie nicht zu ihm zu passen schien) das bewerkstelligte. Er war freundlich, fröhlich und hatte einen leicht federnden Gang. Sehr beredt war er außerdem. Doch nachdem Baltasar Lara als neuen Lehrling im Schlüsselladen vorgestellt hatte, war Melvin in ein eigenartig andächtiges Schweigen verfallen und begnügte sich nun damit, den Holztresen seiner kleinen Chocolateria mit einem Tuch zu polieren – obwohl sich eigentlich gar kein Schmutz darauf befand.
    Ohne ein Wort tranken die drei ihre Schokolade. Sich über andere Dinge als die Schokolade Gedanken zu machen, wäre frevelhafter Verschwendung gleichgekommen.
    Als der leere Becher vor Lara auf dem Tisch stand, sah sie aus dem großen Schaufenster auf die Straße. Ihr Blick glitt hindurch zwischen allerlei Pralinen, Schokoladentrüffeln und -keksen. Auf ein kleines, beschauliches Gässchen.
    Was für ein seltsamer Ort dieses Ravinia doch war. Sie brannte insgeheim darauf, noch mehr Leute von hier kennenzulernen. Jeder Einzelne von ihnen war ein wenig seltsam. Aber etwas schien sie auch zu verbinden, und das machte sie in Laras Augen sympathisch – mit Ausnahme von Nicolaes vielleicht.
    Den Markt würde sie noch zu sehen bekommen, das hatte Baltasar versprochen. Aber nun waren erst einmal wichtigere Dinge zu besprechen. Dinge, die noch etwas mehr von alldem hier erklären würden. Warum es sonderbare Schlüssel gab, warum es garstige alte Männer mit unheimlichen Staffeleien gab, warum es Schokolade gab, die nach Winter schmeckte.
    Â»Die Hexen«, begann Lara nun.
    Tom sah bedeutungsvoll zu Baltasar hinüber und nickte ihm zu. Dieser räusperte sich, als ob es ihm nicht ganz leicht fiele zu sprechen. Vielleicht tat er es auch einfach nur zu selten.
    Â»Ja, die Hexen«, wiederholte er schließlich. Dann begann er endlich: »Im Mittelalter kam es zu einer dramatischen Wendung der Dinge. Wie gesagt, Menschen haben Angst vor allem, was anders ist. Große Sympathien für jemanden mit einem besonderen Talent gab es leider so gut wie nie.«
    Er zuckte mit den Achseln.
    Â»Doch seit etwa dem zwölften Jahrhundert wurde die Verfolgung jener, die anders dachten, sich anders gaben oder einfach anders waren, systematisch betrieben. Zumindest in Europa.
    Vor allem in Glaubensfragen begann die Kirche, sich mit eiserner Hand durchzusetzen. War sie früher noch auf den Handlungswillen von Herrschern und Despoten angewiesen, bekam die Kirche mit der Gründung der Inquisition eine eigene Exekutive. Einen langen Arm, der diejenigen überall erreichen konnte, die von dem Bild abwichen, das die Kirche sich wünschte.
    Ich will niemandem eine generelle Schuld zusprechen, denn Menschen reagieren nun einmal so. Es ist menschlich. So sind wir veranlagt. Irgendjemand strebt immer nach Macht. Irgendjemand verfolgt immer die Minderheiten. So war es, und so wird es wohl immer bleiben.«
    Traurigkeit stahl sich in Baltasars ansonsten so fröhliche Augen wie ein Wolkenschatten. Flüchtig. Da und – ehe man sich’s versah – schon wieder fort.
    Â»Opfer der Inquisition wurden zunächst diejenigen, die sich zu Glaubensfragen kritisch äußerten oder einfach anders dachten.
    Aber es waren vor allem die Hexen, die immer mehr darunter litten. Der Hass der Massen richtete sich gegen diejenigen, die anders waren. Und natürlich gegen die Schwachen unter denen, die anders waren – zum Beispiel gegen die Frauen. Denn sich gegen die Schwachen zu wenden, ist einfach.
    Deshalb sprechen wir oft von der Sache mit den Hexen .«
    Baltasars Blick wanderte zum Schaufenster. Er räusperte sich einmal kräftig. Dann fuhr er fort.
    Â»Die
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