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Ravinia

Titel: Ravinia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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Tagen Gestalt anzunehmen. Es kann beflügeln und enttäuschen, sich auf die Suche nach seiner wahren Identität zu machen. Bei Lara war es wohl eine Mischung aus beidem.
    Â»Ravinia«, war alles, was sie sagte. Bedeutungsvoll und schwer, wie die weihrauchgeschwängerte Luft alter Kirchen schob sich das Wort durch den Raum, hinüber zu Henry McLane.
    Und dieser nickte stumm. Stieß die Tür zu seinem Arbeitszimmer auf und bedeutete Lara, ihm zu folgen.
    Drinnen nahm er seufzend, aber ohne ein Wort, die staubige Mandoline von ihrer Wandhalterung und betrachtete sie. Die Lackierung war ausgeblichen von der Sonne, die seit langen Jahren durch das Fenster schien.
    Er zupfte eine rostige Saite und drehte an den Wirbeln. Drehte und zwirbelte und zupfte, bis er offenbar halbwegs zufrieden mit seinem Ergebnis war.
    Dann setzte er sich und griff vorsichtig mit den Fingern in die Saiten. Es wirkte wie jemand, der seine Beine nach Jahren im Rollstuhl zum ersten Mal wieder gebrauchte.
    Henry McLane griff hierhin und dorthin und war sich nach einer kleinen Weile offenbar endlich sicher mit dem, was er tun wollte. Aus der obersten Schreibtischschublade kramte er ein uraltes Plektron aus Horn hervor und begann zu spielen.
    Melodien erklangen und beschworen von einer Sekunde zur anderen die unterschiedlichsten Bilder in Laras Kopf. Die Kälte des Himalajas, die Hitze der Sahara. Die Ehrfurcht in einer Kirche, die kindliche Ausgelassenheit, die eine große Wiese im Sommer hervorrufen kann.
    Nach einigen Takten wechselte er die Tonart und begann mit seiner rauen, großväterlichen Stimme zu singen.
    Â» I’ll be damned, here comes your ghost again, but that’s not unusual, it’s just that the moon is full … «
    Die Welt begann sich um Lara zu drehen. Ein rostiges Karussell aus Emotionen löste sich aus seinem öligen Stillstand und setzte sich langsam knirschend in Bewegung. Sie kannte diesen Song.
    Diamonds and Rust von Joan Baez. Ein Song, der sowohl Lara als auch Henry McLane ein Stück des Weges begleitet hatte. Wenn auch in völlig unterschiedlichen und weit voneinander entfernten Jahrzehnten.
    Und auf einmal wusste Lara McLane, was ihr Großvater in Ravinia getan hatte. Was er gelernt hatte, wozu er imstande war.
    Die letzte große Erkenntnis eines düstergoldenen Tages.

4. Kapitel, in dem sich Laras Welt plötzlich überschlägt.
    Doch eh ein Mensch vermag zu sagen: schaut!
    Schlingt gierig ihn die Finsternis hinab:
    So schnell verdunkelt sich des Glückes Schein!
    Â  William Shakespeare
    Zeit ist eine seltsame Sache. Oftmals kann sie einem gar nicht schnell genug vergehen, doch genau dann fließt sie bloß wie dicker, zuckersüßer Sirup, der sich schon vor Jahren entschieden hat, sich nur langsam vom Boden des Siruptopfes zu lösen. Elendig langsam.
    Und manchmal, da löst sich ein dicker Klumpen aus dem Topf und rutscht heraus, ehe man sich’s versieht.
    Ein solcher Klumpen Zeit purzelte gerade durch Lara McLanes Leben.
    Aus einem kalten Januar waren ein noch kälterer Februar und schließlich ein März mit nassem, schottischem Wetter geworden. Schwer von grauen Wolken und Frühjahrsstürmen.
    Doch wogen gewisse Dinge nicht mehr ganz so schwer wie noch vor ein paar Wochen.
    Lara und Henry McLane hatten wieder angefangen, miteinander zu lachen. Jenes Lachen, das nur Großväter und Enkel teilen können, wenn die Sonne sich zwischen altem und jungem Leben bricht. Und Lara war froh. Nicht nur weil sie nicht mehr das – zu Recht – verstimmte Mädchen bleiben musste, das von ihren neuen Freunden keinerlei Auskünfte zu erwarten hatte. Sondern auch weil es das Leben nur schwerer gemacht hätte, wenn sie nachtragend gewesen wäre.
    Auch wenn Lara sich sicher war, noch lange nicht hinter alle Wahrheiten gekommen zu sein, so bewahrte sie doch zumindest die Ruhe.
    Zeit ist eine seltsame Sache, überlegte sie. Sie würde noch genug Zeit haben, auch in die letzten Winkel ihrer neuen Welt zu blicken. Irgendwann würde sie schon alles herausbekommen. Wirklich alles . Doch wusste Lara McLane zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie schmerzhaft Wahrheiten bisweilen zu sein pflegen. Aber es stimmte: Jeder hat das Recht auf seine eigenen Wahrheiten und auch auf seinen eigenen Schmerz.
    Zeit ist eine seltsame Sache.
    Vorübergeflogen war sie in den letzten Wochen, in denen Lara bei Baltasar gearbeitet hatte.
    Sie

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