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Ravinia

Titel: Ravinia
Autoren: Thilo Corzilius
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war mein Vater?«, platzte es aus ihr heraus.
    Â»Ein Schlüsselmacher, das weißt du doch schon«, meinte Baltasar.
    Â»Ja, verflucht! Aber wer war er wirklich? Ich meine, warum kennen ihn so viele Leute? Warum soll ich nicht jedem meinen Namen nennen? Spinnt ihr alle miteinander, oder erzählt mir vielleicht endlich einmal jemand, was hier los ist?!«
    Die letzten Worte hatten einen ungeduldigen, zornigen Unterton gehabt. Sie konnte es immer noch nicht fassen. Erzählte man ihr hier immer nur das, was man nicht vor ihr geheim halten konnte? Wie lange sollte das denn noch so weitergehen?
    Eusebius sah Baltasar fragend an.
    Â»Sie weiß es nicht, oder?«
    Baltasar schüttelte den Kopf.
    Der Gildemeister schritt zur Wand hinter seinem Schreibtisch und betätigte einen Hebel, worauf sich die Wand klickend zusammenfaltete und an der Außenseite des Turms als großer Balkon wieder ausbreitete. Der Raum war schlagartig von frischer Luft erfüllt, und auch die Temperatur sank auf das Maß von draußen herab.
    Mit einer einladenden Bewegung holte Eusebius Lara auf den Balkon. Der atemberaubende Ausblick ließ Laras Zorn um ein Haar in neuerlichem Erstaunen ertrinken.
    Die ganze Stadt lag vor ihnen. Mit den wispernden Häusern und verwinkelten Gassen. Unter ihnen wuselte der Markt.
    Zum ersten Mal sah Lara die Stadtmauer. Ein dickes, klobiges Mauerwerk, das die gesamte Stadt umspannte, unterbrochen von kleinen Türmen. Ravinia wirkte wie eine Stadt aus dem Mittelalter. Schief und krumm und knorrig wie ein alter Baum. Weiter weg gab es eine Anhöhe mit größeren Gebäuden. Noch weiter dahinter lag eine große Festung auf einem Felsen mitten in einem reißenden, dunklen Fluss. Als sie nach links sah, entdeckte sie eine Kathedrale. Groß wie ein Dom und mit dem Uhrenturm etwa auf Augenhöhe. Alles erstrahlte in einer Art goldenem Glanz, der von innen zu kommen schien.
    Ein Rabe schoss auf Lara zu und zwang sie, sich zu ducken.
    Â»Post für Mr Eusebius Lanchester«, krakeelte er lauthals.
    Eusebius streckte eine Hand aus und griff nach dem Briefumschlag, den der Vogel trug.
    Sobald ihm Eusebius den Umschlag abgenommen hatte, zischte der Rabe erneut an Lara vorbei und wieder hinaus in Richtung Stadt.
    Â»Mistviecher«, fluchte Tom. »Die wissen genau, dass sie die Post unten abgeben sollen.«
    Lara stützte sich auf das Geländer und sog die Luft ein.
    Was für seltsame Tage es doch gibt, dachte sie. Da wacht man auf und tritt mit dem Fuß in eine andere Welt. Schlüsselmacher, Papiermänner, Lutins, Rabenpostboten. Wo das alles hinführen mochte, überlegte sie. Ihre Eltern hatten von alldem offenbar gewusst. Ja, nicht nur gewusst. Wenn ihr Vater hier ein bekannter Mann gewesen war, dann musste er in Ravinia ein- und ausgegangen sein.
    Â»Warum hat mir niemals jemand etwas gesagt?«, fragte sie leise.
    Es war Eusebius, der ihr die Hand auf die Schulter legte. Erst jetzt bemerkte Lara, dass er einen mechanischen Finger hatte.
    Â»Die Erklärung ist so simpel wie unfair«, sagte er mit ruhiger Stimme.
    Â»Besondere Talente vererben sich nicht immer, musst du wissen. Es kommt oft genug vor, dass unsere Kinder nicht das zu tun vermögen, was wir können. Manchmal entwickeln sie andere Talente. So kann das Kind eines Schreibers ein Talent für die Alchemie besitzen oder zu den Malern gehen. Aber es kommt ebenso von Zeit zu Zeit vor, dass ein Kind überhaupt kein besonderes Talent besitzt.«
    Etwas Unergründliches schwamm in seinen Augen. Doch Lara hätte aus seinem Blick nicht zu lesen vermocht, wie Eusebius über all das dachte.
    Â»Ravinia ist ein Ort für all diejenigen, die anders sind als andere Menschen.
    Deshalb gilt hier die ungeschriebene Regel, dass man Ravinia seinen Kindern – und selbst seinen Partnern, solange diese nicht von selbst etwas von Ravinia und den besonderen Talenten wissen – verschweigt.
    Mehr noch. Man zieht sich selbst so weit es geht aus Ravinia zurück, kehrt hier nur ein, um das Nötigste zu regeln. Man übernimmt keine Aufgaben und Pflichten mehr.
    So bleibt Ravinia, was es ist. Ein Ort für diejenigen, die anders sind.«
    Diese Erklärung sprach für sich, das musste Lara ihm zugestehen.
    Â»Aber gibt es denn gar keine Kinder in Ravinia?«
    Â»Doch, schon. Aber meistens nur beim alten Stadtadel. Leuten, die nur Verbindungen untereinander eingehen. Ein
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