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Ravinia

Titel: Ravinia
Autoren: Thilo Corzilius
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Kind ohne besonderes Talent zur Welt zu bringen, gilt bei ihnen als Schande. Aber von Zeit zu Zeit passiert auch das.«
    Eusebius verzog das Gesicht.
    Â»Tja, die Hochmütigen sind überall gleich. Auch hier in Ravinia. Siehst du die Anhöhe, dort, wo die Brücke zur Burg führt?«
    Lara nickte.
    Â»Dort befinden sich die großen Villen des Adelsviertels. Fremde sind dort selten gern gesehen.«
    Er blickte Lara in die Augen. Räusperte sich und sprach weiter.
    Â»Meistens findet man relativ schnell heraus, ob Kinder eine Begabung haben oder nicht. Vor allem in Adelskreisen drängt man immerzu darauf, schnell eine Antwort auf die Ungewissheit zu bekommen.«
    Baltasar trat nun an Laras Seite.
    Â»In deinem Fall ist es etwas schwieriger«, gestand er. »Da deine Eltern nicht mehr leben, konnte man niemals mit Gewissheit sagen, ob du nach Ravinia gehörst oder nicht. Du bist bei einem Mann groß geworden, der Ravinia aus Liebe zu einer Frau schon lange entsagt hatte.«
    Â»Großvater hatte mit Ravinia zu tun?«
    Natürlich, es musste so sein. Schließlich hatte sie den Schlüssel von ihm bekommen. Und Henry McLane wusste immerzu, was er tat.
    Baltasar nickte.
    Dann fuhr er fort.
    Â»Henrys nüchterner Blick auf die Dinge führte unter anderem dazu, dass er dich erst eine gewisse Reife erreichen lassen wollte. Er wollte, dass du selbst entscheiden kannst, ob du mit Ravinia zu tun haben möchtest oder nicht. Deshalb weiß auch niemand hier etwas von deiner Existenz. Henry hat es niemals die Runde machen lassen.«
    Wieder spürte Lara, dass dies nicht die ganze Wahrheit war.
    Sie blickte zu Tom hinüber, dessen vielsagender Blick Lara durchbohrte. Er nickte ihr zu. Nicht aufmunternd. Eher anerkennend. Aber da war noch etwas anderes in seinem Blick.
    Sie würde ihn später einmal allein aufsuchen und sein Angebot der gestrigen Nacht annehmen. Er würde ihr wenigstens Gehör schenken und sie nicht gleich wieder mit neuen Facetten dieses Spiels ersticken.
    Â»Ich muss dich hiermit also offiziell fragen«, unterbrach Eusebius Laras Grübeln, »dich fragen, ob du die dir angebotene Lehrstelle als Mechanikerin bei Mr Baltasar Quibbes in Edinburgh und somit auch bei uns in der Gilde offiziell annimmst?«
    Lara nickte.
    Â»Ja«, sagte sie.
    Die Antwort hätte – schon aus einem anderen Grund – gar nicht anders ausfallen können: Endlich. Endlich nach all den Jahren hatte sie eine Möglichkeit, mehr über ihre Eltern herauszufinden. Wer sie wirklich gewesen waren, abseits der Straßen und Gassen Edinburghs, einer Stadt, in die man nicht mit seltsamen Schlüsseln reisen musste. Wer waren sie – oder zumindest ihr Vater – gewesen, hier in Ravinia? Was hatte das alles mit ihrem Leben gemacht?
    Ein dünner mechanischer Arm, an dem eine Rabenfeder befestigt war, tauchte diese auf dem Schreibtisch in ein Töpfchen Tinte und schrieb ihren Namen auf ein Formular. Ratternd und knackend und quietschend.

    Es war später Nachmittag, als sie wieder in der Victoria Street standen. Tom war in Ravinia geblieben, er wohnte dort.
    Baltasar hatte ihr erklärt, dass sie nun ganz offiziell Teil von Ravinia war. Teil der düstergoldenen Stadt am dunklen Fluss.
    Er hatte erklärt, dass der Stadtrat dem Antrag der Gilde, Lara als Lehrling anzustellen, in den nächsten Tagen zustimmen würde. Es gab keinen festen Lehrplan für eine Mechanikerausbildung, stattdessen würden Baltasar und Tom ihr alles beibringen, was sie wissen musste, damit sie schließlich, eines fernen Tages, ein Gesellenstück oder vielleicht sogar ein Meisterstück vor den Rat bringen konnte.
    Sie verabschiedeten sich deutlich versöhnlicher als am Vortag, und Lara schlurfte nach Hause. Unbeeindruckt von der Eiseskälte in Edinburgh. Überwältigt von den Eindrücken eines weiteren seltsamen Tages.
    Als sie die Wohnungstür schließlich hinter sich zuzog, stieg Henry McLane gerade die Treppe hinunter, und es kam zu einem unausweichlichen Treffen. Verlegen auf dem hölzernen Dielenboden ihrer Wohnung.
    Nun hätte vielleicht jeder Mensch, der seine Welt nicht ganz verstand, die Frage aller Fragen gestellt. Die Frage, auf die es nur selten eine umfassende Antwort gab und die selbst Götter bisweilen in Verlegenheit bringen konnte: Warum?
    Aber Lara war schon immer anders gewesen. Und das Anderssein begann seit einigen
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