Readwulf
wieder und versuchte so unbeteiligt zu wirken, wie es eben ging.
Dr. Sharma bog um die Ecke. Er hielt einen neuen Stapel Akten im Arm.
»Würde si di bide no beabeide un dise hiel mut no zu Dr. Richards geblachd welde«, erklärte er sehr nett. Ich nickte und war froh, dass er meine Nervosität nicht bemerkte.
Die Akten hatte ich schnell bearbeitet, blieb nur noch die eine für Dr. Richards übrig. Ich nahm sie an mich und eilte, über den Flur und das Treppenhaus, hinüber in den anderen Gebäudetrakt. Ich hatte keine Ahnung wo alle Mitarbeiter waren, aber ich traf keine Menschenseele an.
»Dr. Richards?«, rief ich zweimal, doch eine Antwort bekam ich nicht. Dann späte ich kurz in den Seziersaal: Verlassen.
Soll ich die Akte jetzt einfach hier irgendwo ablegen oder wieder mitnehmen? , grübelte ich wenig später vor mich hin.
Die Gelegenheit war zu günstig unbemerkt noch einmal Gracy und Kassandra zu untersuchen und vielleicht auch das dritte Mädchen, bei deren Obduktion ich dabei war.
»Ich könnte einfach in die Kühlkammer gehen und nachsehen«, erklärte ich mir selbst.
Leise schlich ich nun erst durch den Sektionssaal und dann in die Kühlkammer. Der große Hebel quietschte beim Hochdrücken. Die eiserne Tür ließ sich recht schwerfällig öffnen. Ich schlüpfte hinein und ließ die Tür einen Spalt weit offen stehen.
Unheimlich hier ganz alleine , dachte ich: Aber wenigstens ist es schön kühl.
Im Raum waren an den gegenüberliegenden Seiten jeweils acht viereckige Metalltüren eingelassen. Vier in zwei Reihen übereinander, das hieß man brachte höchstens sechzehn Leichen hier unter. Die Türen waren mit silbernen Zahlen versehen. Gracys Nummer stand bestimmt in ihrer Akte, aber gemerkt hatte ich sie mir nicht: »Na Prima, kann sich nur um Stunden handeln. Wieder mal typisch«, fluchte ich leise.
Mit System öffnete ich Tür für Tür und begann mit der Ersten rechts oben. Ich zog jeweils den Schiebetisch ganz heraus, da die Leichen mit den Kopf nach vorn lagen. Im Anschluss öffnete ich die Reißverschlüsse der weißen Plastikleichensäcke. Einige der Leichname waren total entstellt, vermutlich handelte es sich um Brandopfer. Das waren keine der von mir Gesuchten. Ich verschloss die Säcke sorgsam und schob die Metalltische vorsichtig wieder zurück. Die nächste Tür klemmte etwas, daher musste ich, mit leichter Gewalteinwirkung meiner Schulter, nachhelfen. Eine Niete, so zu sagen, also leer.
In diesem Tempo kämpfte ich mich bis Tür Nummer fünf vor. Dahinter war die Tote, bei deren Leichenöffnung ich anwesend war. Ich öffnete diesmal den Reißverschluss bis zum vorderen Ende, da ich einen Blick auf das Fußkärtchen werfen wollte. Mit zitternder Stimme lass ich laut vor: »Victoria Marple«.
Ich war ihr zwar nie live begegnet, hatte aber einige Geschichten über sie auf dem Campus gehört. Wenn das hier tatsächlich die besagte Vicky war, nannte man sie an der Uni nur `Miss Marple´. Sie, das absolute Partygirl, hatte schon für einige kleine Skandälchen mit diversen Professoren gesorgt. Zuletzt, als sie im vergangenen Semester auf sehr dubiose Weise ihre Abschlussprüfungen bestanden hatte und von der Uni abgegangen war. Das Gesprächsthema Nummer eins für Monate.
Und nun war auch sie tot. Unfassbar, dachte ich und packte sie langsam wieder ein.
Auf dieser Seite hatte ich kein Glück mehr. Erst hinter der Tür mit Kennziffer zehn fand ich Gracys Leiche. Als der geöffnete Reißverschluss einen ersten Blick auf ihr Gesicht zu ließ, sah sie aus, wie eine schlafende Schönheit. Das Plastik klappte ich komplett zur Seite und schaute ich sie mir gründlich an.
»Nichts, so ein Mist! Verdammt«, murmelte ich und bedeckte den nackten Körper gerade wieder, als ich dachte, Schritte gehört zu haben. Ich fuhr herum und stieß dabei mit dem Ellenbogen gegen die Wange der Leiche. Ihr Kopf kippte zur Seite. Ich zuckte zusammen und beeilte mich den Reißverschluss zu schließen. Leider verfingen sich Gracys blonde Haare in ihm und verklemmten sich. Ich fluchte kaum hörbar und ballte dabei kurz hilflos die Hände zu Fäusten. Die Anspannung in mir wuchs stetig und ich wurde zusehends nervöser. Ich lauschte, doch draußen war alles still.
Einige Sekunden des Fummelns später, hatte ich ihre Haare befreit und versuchte sie danach etwas zu ordnen. Ich ließ sie ein paar Mal durch meine Finger gleiten, bis mir ein klitzekleiner roten Punkt dicht am Haaransatz ihres Halses auffiel. So einen
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