Rebecka Martinsson 04 - Bis dein Zorn sich legt
trotzdem nur schwarzen Waldrand und schmutzige Schneewehen. Ihre Augen suchten mechanisch den Straßenrand nach Rentieren ab, aber ansonsten ruhten sie vor allem auf dem rissigen Asphalt.
Als sie vor Annis Haus aus dem Auto stieg, hob sich ihre Laune.
»Es riecht ja schon von Weitem nach Frischgebackenem«, sagte sie, als Anni aufmachte.
In der Küche füllte Anni Plastiktüten mit Zimtschnecken, die Anna-Maria dann mitnehmen sollte.
»Was sollte ich denn sonst damit anfangen?«, fragte sie, als Anna-Maria zu protestieren versuchte. »Alle alten Leute hier im Ort haben ihre Tiefkühltruhen mit ihren eigenen Zimtschnecken vollgestopft. Man kann höchstens manchmal jemandem eine einzige aufschwatzen, wenn sie frisch gebacken sind. Sie machen doch wohl keinen solchen Glyxdiätkram?«
»Nein.«
»Da, dann stippen Sie mal.«
Anna-Maria brach Stücke von ihrer Zimtschnecke und stippte sie in den heißen Kaffee.
»Haben Wilma und Simon Ihnen gegenüber je erwähnt, dass sie irgendwo tauchen wollten?«, fragte sie.
»Ich wusste nicht einmal, dass sie zum Tauchen losgefahren waren. Das hätte ich der Polizei doch gesagt, als sie verschwunden waren. Niemand wusste irgendetwas. Simons Mutter hat ja gesehen, dass seine Ausrüstung nicht mehr in der Garage lag, und da haben wir angenommen, dass sie irgendwo tauchen wollten. Aber Sie wissen ja, das Auto wurde nicht gefunden. Gar nichts wurde gefunden.«
»Nein. Gibt es irgendwen, dem sie das erzählt haben könnten, was meinen Sie? Irgendwelche Freunde hier im Ort oder so?«
»Hier im Ort wohnen fast keine Jugendlichen mehr. Hier gibt es nur noch uns Alte. Die Kinder leben in der Stadt oder in Südschweden. Streiten sich darum, wer das Elternhaus unterhalten soll, wenn sie geerbt haben. Sie verkaufen es nicht, und sie kommen auch nicht mehr, nicht einmal im Sommer. Die Häuser stürzen ein. Ich nenne meine Neffen, Tore und Hjalmar Krekula, immer die ›Jungs‹, aber Herrgott, die sind ja auch schon über fünfzig. Tore hat ja zwei Söhne. Die fahren für ihren Vater, aber sie wohnen ebenfalls in Kiruna. Nein, Wilma und Simon, die waren meistens hier zu Hause. Oder in der Stadt. Er hatte doch dort ein Zimmer. Noch Kaffee?«
»Nein, danke. Darf ich mal ihr Zimmer sehen?«
»Sicher. Ich komme aber nicht mit, weil es oben liegt.«
Plötzlich sah Anni gequält aus.
»Oben im Haus ist es so kalt. Sie müssen entschuldigen. Ich habe den Heizkörper heruntergeholt, als sie … nachdem sie … als ob ich nur ans Geld dächte.«
Sie verstummte, während sie an der Anrichte stand und sich eifrig ein wenig Mehl von der Schürze wischte.
»Ist schon gut«, sagte Anna-Maria. »Heizen kostet. Ich weiß das. Ich habe selbst ein Haus.«
»Es ist nicht gut. Ich hätte die Heizung brennen lassen müssen. Das Haus und ich hätten auf sie warten müssen.«
»Wissen Sie«, sagte Anna-Maria. »Man kann praktisch sein, auch wenn man trauert oder sich Sorgen macht. Ich nehme an, Sie haben beides getan.«
»Ich will nicht wieder weinen«, sagte Anni und sah Anna-Maria flehend an, als ob sie sie daran hindern könnte. »Sie sollten mal wissen, wie es hier im Haus war, als sie hier gewohnt hat. Es schien voller Leben zu sein. Noch immer wache ich morgens auf und denke, dass ich Frühstück für sie machen muss. Sie glauben mir sicher nicht, wo ich doch den Heizkörper heruntergeholt habe.«
»Wissen Sie, das mit der Heizung ist mir restlos schnurz.«
Anni deutete ein Lächeln an.
»Ich war wirklich so froh. Ich habe jeden Tag, jeden Morgen genossen, sie hierzuhaben. Denn ich habe das nicht als selbstverständlich betrachtet. Ich wusste ja, dass sie jederzeit zurück nach Stockholm ziehen konnte.«
Das hier ist kein typisches Teenagerzimmer, dachte Anna-Maria, als sie Wilmas Zimmer im Obergeschoss betrat.
Vor dem Fenster stand ein alter Büroschreibtisch. Ein blau angestrichener Holzstuhl fungierte als Schreibtischsessel. Das Bett war schmal, vielleicht achtzig Zentimeter. Darauf lag eine weiße gehäkelte Tagesdecke. Es gab keine Plakate an den Wänden, keine Teddybären und Kuscheltiere als Erinnerung an die Kindheit. Neben dem Bett war ein Foto von Wilma und Simon an der Wand befestigt. Wilma schien die Kamera selbst gehalten zu haben. Sie lachte herzlich. Er lächelte leicht verlegen. Anna-Maria wurde traurig, als sie dieses Bild sah.
Sie durchsuchte die Schreibtischschubladen. Keine Karten. Kein Tagebuch.
Sie hörte, wie Anni sich die Treppe hochkämpfte, und sie öffnete
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