Rebecka Martinsson 04 - Bis dein Zorn sich legt
brüllt er Hjalmar an. »Aus meinen Jungs sollen verdammt noch mal keine bleichgesichtigen Zahlenknechte werden, das hab ich ihm gesagt. Mathe, ha? Wofür hältst du dich, verdammt noch mal? Bist du zu fein, um im Fuhrunternehmen zu schuften, ha? Passt das dem gnädigen Herrn vielleicht nicht? Dein ganzes Leben lang hat das Fuhrunternehmen für das Essen auf deinem Tisch gesorgt.«
Er schnappt nach Luft, als sei der Zorn dabei, ihn zu ersticken, wie ein über seinen Mund gepresstes Kissen.
»Wenn es dir nicht passt, Verantwortung für die Familie zu übernehmen, dann bist du hier nicht mehr willkommen, ist das klar? Von mir aus kannst du Mathe büffeln, aber dann musst du dich anderswo satt essen.«
Hjalmar will sagen, dass er doch gar nicht auf die Realschule will. Dass das alles eine Erfindung von Magister Fernström ist, aber er bringt keinen Ton heraus. Die Angst vor Isak versperrt den Wörtern den Weg. Und nicht nur die. Sondern auch eine Erkenntnis.
Die Erkenntnis, dass er gut in Mathe ist. Geradezu begabt. Genau, wie der Rektor gesagt hat. Er ist eine mathematische Begabung. Fernström hat das dem Rektor gesagt, und Fernström ist sogar nach Piilijärvi gefahren, um es auch dem Vater mitzuteilen.
Und als Isak ruft: »Was willst du also?« Und als Hjalmar nicht antwortet. Und als Isak ihm eine scheuert, zwei, so, dass es in Hjalmars Kopf singt und dröhnt. Da hat Hjalmar das Gefühl, dass aus ihm ein »bleichgesichtiger Zahlenknecht« werden kann. Etwas, das für die anderen in der Familie unerreichbar ist und das deshalb Isak vor Zorn den Schaum vor den Mund treibt.
Dann sitzt er unten am Ufer. Muss die geschundene Wange von der Herbstsonne weghalten, weil die Haut so brennt.
Er sieht zwei Raben, die ungeschickt mit einem Stöckchen spielen. Der eine fliegt in wilder Akrobatik, mit dem Stöckchen im Schnabel, dicht gefolgt von dem anderen. Sie überschlagen sich, vollführen halbe Drehungen um die eigene Achse, jagen im Sturzflug zum Wasser hinunter und dann wieder nach oben.
Der, der das Stöckchen hat, fliegt mit kühnem Schwung in eine Baumkrone, man glaubt, er werde mit dem Stamm oder einem Ast kollidieren und sich den Hals brechen, aber in der nächsten Sekunde kommt er auf der anderen Seite wieder zum Vorschein, wie ein schwarzes Wurfmesser hat er seinen Weg direkt durch die Zweige gefunden. Er segelt über den See und stößt ein übermütiges »Koorrp« aus, wobei er das Stöckchen natürlich verliert. Beide Raben drehen ein paar Runden über dem Wasser, ehe es ihnen zu bunt wird und sie über die Kiefernwipfel davonfliegen.
Ich lande neben Hjalmar auf dem Steg. Er ist dreizehn Jahre alt, und seine Wange ist flammend rot. Die Tränen laufen ihm über das Gesicht, auch wenn er denkt, dass er nicht weinen wird. Und dann kommt der Zorn. Der überwältigt ihn mit solcher Macht, dass er zittert. Er hasst Isak, der schrie, dass seine Spucke aufstob. Er hasst Kerttu, die wie immer allem den Rücken kehrte. Er hasst Magister Fernström, warum zum Teufel musste der unbedingt mit Isak reden? Hjalmar hat ihn nicht darum gebeten. Er ist nie auf die Idee gekommen, dass er auf die Realschule gehen könnte. Ihm ist etwas genommen worden, das er ja doch nicht hatte. Warum weint er also?
Der Zorn in ihm ist ein heißes Eisen. Er springt auf, fast taumelt er. Er geht zu Tore, der an seiner Zündapp herumbastelt, der im Vergaser eine größere Düse anbringt.
»Komm mit nach Svappavaara«, sagt er nur.
Magister Fernströms schwarzer VW steht wie immer auf der Straße, hundert Meter von der Schule entfernt.
Hjalmar hat ein Brecheisen bei sich. Er fängt mit den Vorder- und Heckscheinwerfern an. Bald liegen die Glasscherben wie Diamantenhaufen auf dem Asphalt, aber das reicht nicht, er hat noch immer so viel zitternde Wut in seinen Muskeln, die hinausmuss, raus. Er zerschlägt Windschutzscheibe und Seitenfenster, das Heckfenster. Es macht peng, wenn das Glas bricht, die Scherben fliegen nur so, Tore weicht einige Schritte zurück. Ein paar Kinder gehen vorbei.
»Wenn ihr uns verpfeift, sind nächstes Mal eure Köpfe dran«, sagt Tore, und die Kinder verschwinden wie verschreckte Wühlmäuse.
Tore setzt einen Fuß in das ausgeschlagene Seitenfenster und springt auf das Dach, hüpft ein paarmal darauf herum, bis es ganz eingedrückt ist, und springt vom Autodach auf die Motorhaube.
Es geht schnell, in drei Minuten sind sie fertig, und dann ist es Zeit zum Abhauen.
»Komm schon«, ruft Tore, der bereits auf
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