Rebecka Martinsson 04 - Bis dein Zorn sich legt
genommen hat, wird er von einer tiefen Müdigkeit überwältigt. Er legt die Brote neben sich.
Der Wind bewegt sich mit trägem Rauschen in den Tannenwipfeln. Wie Annis Holzlöffel in einem Kochtopf. Die Zweige nicken hin und her. Sie leisten keinen Widerstand. Lassen sich wiegen. Vorhin dachte er, dass die Schreie der Vögel seinen Ohren wehtäten. Sie klangen wie Messer, die aneinandergewetzt werden. Jetzt klingen sie ganz anders. Sie tschilpen und piepen. Ein Specht hackt in der Ferne auf einen Baum ein.
Er legt sich auf die Seite. Es tropft vom Dach des Windschutzes.
Ihm fällt ein Satz ein. »Und mein Geist ist in Ängsten, mein Herz ist erstarrt in meinem Leibe.« Woher mag der stammen? Hat er ihn in der Bibel gelesen, die in seiner Hütte in Saarisuanto liegt?
Warum soll man sich über das, was gewesen ist, den Kopf zerbrechen? Wie sein Vater ihn in das Eisloch gedrückt hat. Es ist doch ein halbes Jahrhundert her. Er denkt sonst nie daran, warum also sollte er jetzt damit anfangen?
Ihm fallen die Augen zu. Der Schnee seufzt frühlingsmüde im Wald. Die Sonne brennt. Er schläft in der Wärme des Windschutzes ein.
Er wird davon geweckt, dass etwas in der Nähe ist. Schlägt die Augen auf und sieht zuerst nur einen Schatten vor der Sonne. Zottig und schwarz.
Plötzlich wird er klar im Kopf. Ein Bär.
Der Bär stellt sich vor ihm auf die Hinterbeine. Jetzt kann er mehr erkennen als nur die Silhouette. Die Schnauze, das Fell. Die Tatzen und die Krallen. Drei Sekunden lang steht der Bär still und schaut ihm direkt in die Augen.
Jetzt gute Nacht, denkt Hjalmar.
Noch drei Sekunden. Und in diesen drei Sekunden wird es in Hjalmar ganz still.
Es kommt eben, wie es kommen soll, denkt er über seinen eigenen Tod.
Gott schaut Hjalmar durch die Augen des Bären an.
Dann macht der Bär kehrt, lässt sich auf alle viere fallen und trottet davon.
Hjalmars Herz schlägt. Es sind Schläge des Lebens. Es sind die Fingerspitzen des Schamanen auf dem Fell einer Trommel. Es ist der Regen auf dem Blechdach seiner Hütte in Saarisuanto, an einem Herbstabend, wenn man im Bett liegt und das Feuer im Kamin knistert.
Das Blut fließt durch seine Adern. Es ist das Frühjahrswasser, das sich aus dem Eis befreit, das unter dem Schnee strömt, das sich einen Weg in die Bäume sucht, das sich von den Felsen stürzt.
Sein Atem fährt in seiner Lunge aus und ein. Es ist der Wind, der den Raben in seinem Spiel hochhebt, der den Schnee auf den Bergen zu scharfen Wirbeln peitscht, der vorsichtig am Abend den See kräuselt und sich dann zur Ruhe legt und alles still und spiegelblank werden lässt.
Mein Gott, betet Hjalmar, weil er niemand anderen hat, nichts anderes, an das er sich wenden kann, in diesem Gefühl von Gnade, das ihn überkommen hat. Bleiben, bleiben.
Aber er weiß, dass man nicht lange in diesem Gefühl verweilen kann. Er sitzt still, bis es abgeklungen ist.
Jetzt entdeckt er, dass seine Brote verschwunden sind. Die also hatten den Bären angelockt.
Er fährt in einer munteren Stimmung nach Hause.
Jetzt kann passieren, was will, denkt er. Ich bin frei. Der Bär hätte mich holen können. Es hätte das Ende sein können.
Er wird in der Bibel in der Hütte nach diesen Zeilen suchen. »Mein Herz ist erstarrt in meinem Leibe.«
ANNI SIEHT JETZT richtig durchsichtig aus. Sie ist auf der Küchenbank eingeschlafen. Ich sitze daneben und sehe ihren Brustkasten an. Die Muskeln darin sind so müde, sie haben keine Kraft mehr. Flach und rasch sind ihre Atemzüge. Die Frühlingssonne brennt durch das Fenster und wärmt ihre Beine. Dann schlägt sie plötzlich die Augen auf, und ich habe das Gefühl, dass sie mich ansieht.
»Sollen wir Kaffee aufsetzen?«, fragt sie.
Und mir geht auf, dass sie wirklich mit mir redet, obwohl sie mich nicht sieht. Obwohl sie sich alles andere als sicher ist, dass ich hier bin.
Sie setzt sich langsam auf, die linke Hand stützt sich hinter ihrem Rücken ab, mit der rechten hält sie sich am weiß gestrichenen Holzrücken der Küchenbank fest. Dann muss sie mit beiden Händen ihre Beine immer weiter zum Rand der Bank schieben, bis die draußen landen und sie die Füße auf den Boden setzen kann. Die Füße in die Pantoffeln, die Hand stützt sich an dem Tisch ab. Ein kleines Geräusch von Anstrengung und Schmerz, ein »eh-heh-heh«, kommt über ihre Lippen, als sie aufsteht.
Sie gießt Wasser in den Topf, öffnet die Kaffeedose und gibt Kaffee in das Wasser.
»Ich dachte, wir könnten das
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