Rebellin der Nacht: Roman (German Edition)
einen Klaps. »Aber die Versuchung, die Ruine während der Lammzeit als Schäferhütte zu benutzen, war zu groß.« Er wies ans andere Ende des langen Raums, wo sich am Boden ein verbranntes Rund befand und im Dach darüber ein Loch. An der Wand stand eine leere Pritsche.
»Oh«, sagte Victoria und verzog den Mund zu einem betretenen Lächeln. »Ich habe über die Hälfte meines Lebens auf dem Land verbracht und merke erst jetzt, dass ich nichts von Lämmern, Kälbern und Landwirtschaft weiß, obwohl sich das Leben der Pächter auf dem Besitz meiner Familie um nichts anderes dreht.«
Byron zog eine Augenbraue hoch und stellte sich amüsiert vor, wie sie im Nachtgewand in eine Scheune lief, um bei der Geburt eines Lämmchens dabei zu sein, oder sich im verzweifelten Versuch, das Leben einer geliebten Stute zu retten, bis über die Ellenbogen mit Blut befleckte. »Nur wenige Ladys wissen das. Und die Gentlemen meist auch nicht – selbst von denen, die über zweihundertfünfzig Hektar besitzen, weiß kaum einer genau, was sich auf seinem Land abspielt.«
Victorias Miene entspannte sich, wurde neugierig. »Aber Sie schon.«
Byron zuckte die Schultern. »Ich brauchte in jungen Jahren etwas, um mich zu beschäftigen. Von Ausschweifungen einmal abgesehen. Und da mein Onkel mir bei vier kleineren Besitzungen freie Hand gelassen hat, hatte ich jede Menge Beschäftigung.« Er sah sie von der Seite an. »Kommen Sie. Sie wollten Rock Keep sehen und haben bis jetzt nur das Innere eines Außengebäudes gesehen.«
»Gerne«, sagte Victoria und raffte den langen, engen Rock ihres Reitkleides. Sie folgte ihm über die Schwelle nach drau ßen in den Nieselregen. »Wenn mir die Frage gestattet ist, wie viele Besitzungen halten die Dukes of Raeburn?«
Byron hielt inne und bot ihr den Arm. »Neun, Raeburn Court eingeschlossen. Und ich besitze ein paar Häuserblocks in London und in Bath ein halbes Dutzend annähernd wertloser Stadthäuser.« Sie legte den Arm leicht auf seinen, die weichen Glacéhandschuhe berührten zart sein Handgelenk. »Die Ländereien sind riesig, aber von den Herrenhäusern stehen mir nur fünf zur Verfügung.«
»Oh? Was ist mit den anderen passiert?« Sie sprach zu Raeburn, doch ihre Augen fixierten den Turm, der sich direkt vor ihnen erhob.
Byron beobachtete sie verstohlen, während er antwortete, um ihre Reaktion zu sehen. »Eines habe ich abgerissen. Es hatte schon in gutem Zustand wenig Ansprechendes gehabt, aber es war in schlechtem Zustand und nicht bewohnbar. Das zweite habe ich an einen Schuhfabrikanten aus London vermietet, der einen Landsitz in Stadtnähe brauchte, um seine gesellschaftlichen Ambitionen zu verwirklichen. Das dritte dient jetzt als Knabenschule. Und das vierte habe ich zu einem Käserei-Unternehmen ausgebaut.«
Victoria sah zu ihm auf, erstaunt, aber nicht entsetzt. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie Ihre anderen Residenzen aufgeben, auch wenn Sie sich vor allem dem hiesigen Herrenhaus verbunden fühlen.«
Er blieb stehen und sah sie an. »Tradition und Familiengeschichte mögen schön und gut sein. Aber ich möchte meinen Beitrag leisten, indem ich ein paar der Güter profitabel mache.« Er nahm sie wieder am Arm und ging langsam mit ihr auf die Festung zu. »Die Zeiten ändern sich, Victoria. Vor fünfzig Jahren waren die englischen Dukes und Earls die größten Männer der Welt. Jetzt könnten die Londoner Geschäftsleute selbst die Reichsten von ihnen gleich mehrfach aufkaufen.« Er lachte freudlos. »Wir nehmen Rache an ihnen, indem wir im Hyde Park ihre Söhne ignorieren und ihre Töchter nicht zu unseren Teegesellschaften und Bällen einladen, aber um die Wahrheit zu sagen, wir fürchten uns ein wenig vor ihnen, weil wir vielleicht bald diejenigen sein werden, die man von den Gästelisten streicht.« Er sah sie von der Seite an. »Nach allem, was wir wissen, werden Annies Kinder sich vielleicht weigern, den nächsten Duke of Raeburn anzuerkennen, sehr zu seinem Verdruss.«
Victoria schüttelte den Kopf. Ihre Augen leuchteten, und der Wind färbte ihr die Wangen rot. »Vielleicht ist das der Ausgleich für das Schicksal der Weber und Schmiede, das Sie so beklagen. Aber das alles scheint so unglaublich. Sogar hier« – sie wies auf die monströse Ruine -, »wo es doch leicht fallen sollte, an den Zerfall der Klassengesellschaft zu glauben.« Sie lächelte. »Aber es illustriert Ihre Sichtweise so gut wie meine. Wie tief die Mächtigen auch fallen, sie behalten immer
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