Rebellin der Nacht: Roman (German Edition)
Durchgang hinaus, wo es in Strömen regnete. Byron wartete geduldig, dass sie etwas sagte. Er breitete eine Decke aus, holte Porzellan und Essen aus dem Picknickkorb.
Victoria seufzte. »Haben Sie auch manchmal das Gefühl, als hätten Sie… ein Rauschen im Blut? Als wolle ein Teil von Ihnen fliegen und nie mehr damit aufhören?«
Er dachte an Leticias gezierte Miene, als sie ruhig in ihrem Salon gesessen und ihn beleidigt hatte, an den wahnsinnigen Impuls, der ihn in den Norden nach Yorkshire getrieben hatte, ihn wie einen Verrückten hatte losreiten lassen – an seinen Ausbruch, als Charlotte sich mit Will Whitford verlobt hatte, und an seine grimmige Entschlossenheit, sich niemals mehr einem anderen Menschen zu offenbaren, nachdem er Wills entsetztes und von Abscheu erfülltes Gesicht gesehen hatte.
Aber das war es nicht, was Victoria meinte. Er wusste instinktiv, dass sie nicht von dem wütenden Aufruhr aus Zorn und Verzweiflung sprach, der ihm damals fast den Verstand geraubt hatte. Er dachte an seine Kindheit, an Tage in abgedunkelten Räumen, wo hinter dicken Samtvorhängen eine ganze Welt aus Farben gelegen hatte, auf die er nur heimliche Blicke hatte erheischen können, wenn seine Lehrer und Erzieher ihm den Rücken zuwandten. Er dachte daran, wie er sich diese Blicke wieder und wieder gestohlen, den blauen Himmel und die smaragdgrünen Wiesen in sich aufgesogen hatte, während die Schmerzen in seinem Gesicht ihn längst zum Aufhören zwingen wollten. Daran, wie er am nächsten Tag fiebrig im Bett gelegen hatte, wie die Kindermädchen ihn umsorgt und sich gefragt hatten, wie er sich so hatte verbrennen können … Wie hätte er ihnen auch erklären sollen, dass die Wiesen und Gärten, die ihnen kaum einen Blick wert waren, nach ihm zu rufen schienen? Wie hätte er ihnen erklären sollen, dass er liebend gern mit dem schwachsinnigen Sohn des Gärtners getauscht hätte, nur um barfuß und baren Hauptes durchs Gras laufen zu können, während die Sonne sein Gesicht küsste?
Er starrte in den Regen. Der bewölkte Himmel war nur eine Spur heller als die Dämmerung. Dies war seine Welt – die Stunden, wenn der Sturm die Sonne verschleierte; die Winterdämmerung, wenn das Licht matter und kraftloser war. Es hatte keinen Sinn, sich nach Sonnenschein zu sehnen, wie der dumme kleine Junge es getan hatte. Und dennoch... ein Teil von ihm tat es immer noch.
Byron bemerkte, dass Victoria ihn beobachtet haben musste. Ihre Miene war gefasst, als rechne sie mit einer abfälligen Erwiderung, aber da war auch noch ein mitfühlendes Flackern, als hege sie den Verdacht, sein Schweigen verhieße mehr als Ablehnung.
»Ja«, sagte er schließlich. »Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen.«
Sie nickte, und das war für lange Zeit alles, was sie einander zu sagen hatten.
Der Regen hatte sich vom Wolkenbruch in ein Nieseln verwandelt. Vom Durchgang aus konnte Victoria die Hügel unter ihnen sehen. Ein paar durchnässte Schafe hatten sich in einer Mulde zusammengedrängt. Aus den Kaminen stieg Rauch auf, den der feine Regen auf die Erde zurückdrängte. Die kühle Luft war so feucht, dass Victoria sie fast schon trinken konnte, und sie malte sich aus, wie süß und erdig sie schmeckte, genau wie der Boden unter ihr duftete. Das klamme Gefühl, das über ihre Glieder kroch, war fast angenehm, weil ein kleiner Schritt zum Feuer schon reichte, es zu vertreiben.
»Was werden Sie tun, Victoria?«
Victoria fuhr auf, als hätte Raeburns Stimme sie zurückgeholt. Sie beschloss, so zu tun, als wisse sie nicht, was er meinte, aber es war sinnlos. »Wenn ich wieder auf Rushworth bin? Ich werde jeden Tag nehmen, wie er kommt. Was sonst? Sie haben mir vorgeworfen, ich würde mich selbst belügen. Wie überzeugend wäre es da, Pläne zu machen, obwohl ich keine Ahnung habe, was ich will?«
»Der Punkt geht an Sie.«
Victoria drehte sich zu ihm um und spürte dieselbe Kluft, dieselbe Distanz zwischen ihnen, die ihr seit ihrer Ankunft zusetzte. »Und Sie – was wollen Sie?«
Er lächelte sie freudlos aus dem Schatten hinter dem Durchgang an, in den er sich zurückgezogen hatte, als der Regen nachgelassen hatte. Sein Haar war in wilden Locken getrocknet, die ihm um den Kopf standen und sein zerklüftetes Gesicht fast barbarisch aussehen ließen. »Ich bin der Duke of Raeburn. Was könnte ich wollen, das ich nicht schon habe?«
Victoria schnaubte. »Das Witwenhaus fertig stellen, Raeburn Court bewohnbar machen, Ihre Ländereien
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