Rebellin der Nacht: Roman (German Edition)
noch die Erinnerung an eine Macht, die größer als alles ist, was die Kleinen je erreichen werden.«
»Sie sehen uns also als Erben des Verfalls.« Er lachte trocken. »Ich denke, da ziehe ich das Vergessen vor!«
Sie hatten den Turm erreicht, und Byron blieb vor einem Riss im Mauerwerk stehen. »Das da ist von hier aus der einzige Zugang. Die Holztreppe, die früher zum Haupteingang hinaufgeführt hat, ist schon lange fort.«
»Also, dann«, sagte Victoria und straffte gespielt verwegen die Schultern. »Erlauben Sie mir, voranzugehen.«
Sie schob sich durch den Spalt und blieb wie angewurzelt stehen.
»Oh«, sagte sie und sah sich mit großen Augen um. Byron spähte über ihre Schulter. Obwohl er die Ruine schon ein Dutzend Mal besucht hatte, hatte der Ort auch für ihn noch etwas Sakrales an sich, das ihm den Atem stocken ließ. Draußen lag der kahle, windgepeitschte Hügel, eisiger Nieselregen schlug an die alten Mauern, und abgebrochene Steine lagen im wirren Gestrüpp. Doch innerhalb der Mauern herrschte absolute Stille, ein Schweigen, das fast unnatürlich war. Sie standen auf einem schmalen Gesims, darunter waren einst die Keller gewesen. Auf jeder waagrechten Fläche hatten sich die Ablagerungen aus zwei Jahrhunderten gesammelt – die Trittstufen einer vermoderten Treppe, die zerbröckelnden Bögen, die einst die hölzernen Böden getragen hatten, und aus den Wänden ragten in seltsamen Winkeln Steine hervor. Wo immer Erde war, wuchsen Büsche und Gräser und bildeten eigenwillige hängende Gärten, die den Ort mit ihrem Zauber umfingen.
Victoria warf ihm plötzlich ein übermütiges Lächeln zu und sprang auf einen der schiefen Steinbrocken.
»Ist der auch sicher?«, fragte sie.
Er sah zu ihr auf. »Nicht, wenn Sie so darauf herumspringen, aber das letzte Mal, als ich hier war, schien alles noch stabil zu sein. Aber unten im Keller liegt das Skelett eines Lamms – das sollte Warnung genug sein, was Ihnen alles passieren kann, wenn Sie nicht aufpassen.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Ich bin so wendig wie eine Ziege und bestimmt kein Lamm. Aber ich nehme es mir zu Herzen.« Ein kleiner Sprung, und sie kauerte auf der untersten Stufe einer Steintreppe, die sich die Wand hinaufschwang.
Byron krampfte sich der Magen zusammen, als sie auf der Kante balancierte, aber ihre Augen blitzten provozierend, und er wusste, sie würde nur noch tollkühner werden, wenn er etwas sagte. Also lehnte er sich an die Wand und gab sich einen möglichst gelassenen Anschein. Victoria schien in diesem Steinhaufen auf sonderbare Weise zu Hause zu sein, als weckten die Felsen das Ungestüm in ihr. Sie hätte im Turm ein gutes Gespenst abgegeben. Etwas in ihr schien den Frieden hier nicht zu mögen.
»Wollen Sie nicht zu mir kommen«, fragte sie. Ihre hellen Augen strahlten, und sie hatte fragend den Kopf schief gelegt.
»Wie Sie wünschen«, murmelte er mit gespielter Ehrerbietung und schüttelte das schleichende Unbehagen ab. Er kletterte ihr hinterher, die Stiefel auf den regennassen Steinblöcken knarrend.
Sie drehte sich um und lief leichtfüßig die Treppe hinauf. Doch obwohl sie sich einen so leichtsinnigen Anstrich gab, legten sich Byrons Ängste ein wenig, als er sah, wie sie mit dem Fuß sacht jeden Stein prüfte, bevor sie das Gewicht darauf verlagerte. Trotzdem achtete Byron darauf, nicht mehr als eine Armeslänge entfernt zu sein. Falls sie ausrutschte, wollte er zumindest die Chance haben, sie aufzufangen.
Weiter oben sah die Treppe instabiler aus. In den Stufen tauchten Risse auf, und ganz oben fehlten ganze Stücke. Victoria pausierte längere Zeit. Byron war kurz davor, sie nach unten zu beordern, als sie die Schultern straffte und zwei Schritte tat, die sie auf Höhe eines Fensterschlitzes brachten. Dort blieb sie stehen und betrachtete die Landschaft. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, die typische beherrschte Wachsamkeit schwand und wich etwas Zärtlichem, fast Ehrfürchtigem. Gedämpftes Sonnenlicht fiel durch den Schlitz und illuminierte ihr Gesicht, die fein geschnittenen Linien, die präzise, ganz leicht nach oben gebogene Nase, die schönen Lippen, die entspannt und ein wenig geöffnet waren, als söge sie den Wind ein. Sie war ein Wesen aus Porzellan und Licht, strahlte unfassbare Lebendigkeit aus. Byron wusste plötzlich, dass er sie – was immer die nächsten Tage auch geschah – genau so in Erinnerung behalten würde. Ein ätherisches Wesen aus Licht, in einem wehrlosen Augenblick
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