Rechnung offen
Dielen. »Hallo«, rief er sicherheitshalber, die Badezimmertür stand offen, das Licht war aus. Als das Luftholen nicht mehr wehtat, schloss er wieder ab und ging die Treppe hoch in den Zweiten.
Frau Streml war zu Hause, streckte den Arm aus und nahm seine Hand, sobald sie die Tür geöffnet hatte, das tat sie sonst nicht.
»Komm«, sie zog Lucas in den Flur, »ich habe eine Überraschung für dich.« Sie lief vor ihm her, zum Wohnzimmer. »Sieh mal, wen ich gefunden habe«, sagte sie und stieß die Tür auf, der Tisch war gedeckt, wie immer, am Tisch saß die dicke Blonde, die auch im Zweiten wohnte, mit einer Tasse in der Hand. Frau Streml machte eine Handbewegung in ihre Richtung, »Ursula«, und sah Lucas an, als erwarte sie, er würde sich freuen. Es war sehr still.
»Hallo«, sagte er schließlich.
Die Dicke nickte ihm zu, ihre Augenbrauen zusammengezogen, als verstünde sie auch nicht.
»Die Mama ist wieder da«, Frau Streml lächelte, nahm Lucas’ Arm und führte ihn durch das Wohnzimmer, um den Tisch herum, bis er neben dem Stuhl der Blonden stand. Frau Streml legte seine Hand auf die der Dicken auf dem Tisch. Warm war die Hand, schüttelte seine mit einer ruckartigen Bewegung wieder ab.
»Manuela ist meine Mutter«, sagte Lucas.
Frau Streml ging zu dem flachen Schrank neben dem Sofa, schien ihn nicht gehört zu haben.
»Ich hol dir einen Teller«, sagte sie.
Lucas zog seine Jacke aus, legte sie aufs Sofa.
»Meine Mutter heißt Manuela«, wiederholte er, die dicke Blonde sah zum Fenster.
Die Glasschale war fast leer, Lucas nahm die beiden letzten Gummibärchen, steckte sie rasch in den Mund.
Frau Streml strich ihm über die Haare.
»Ich habe mehr in der Küche«, sagte sie.
»Du heißt gar nicht Ursula«, sagte Lucas zu der dicken Blonden, sobald Frau Streml die Tür hinter sich geschlossen hatte. Jansen stand auf ihrem Briefkasten, Ebba Jansen auf der Post, sie leerte ihn nicht jeden Tag, häufig ragten Umschläge und Prospekte aus ihm heraus.
»Und du bist auch nicht ihr Enkel«, antwortete sie und trank einen Schluck aus ihrer Tasse.
***
Geht ein Mann verloren im Schnee. Schöner Satz, dachte Nicolai und sagte ihn laut. »Geht ein Mann verloren im Schnee«, Atemwolken vor den Lippen.
Die Spätschicht war gegangen, die Rollläden waren runtergelassen, im Winter schlossen sie früh. Der Zettel klebte nicht mehr am Laternenpfahl. In seiner Heimatstadt gab es eine Engelsstraße, in der hatten im Mittelalter die Engelmacherinnen gewohnt.
»Weg«, hatte der Nachbar gesagt, Nicolai hatte ihn aus dem Haus kommen sehen, kannte ihn aus dem Treppenhaus. »Moment«, hatte er gerufen, der Nachbar hatte die Tür für ihn aufgehalten. »Hat sie was vergessen«, hatte der Nachbar gefragt, als Nicolai vor ihm stand. Sie sei ausgezogen am Wochenende, er habe ihr mit dem Lattenrost geholfen, viel hätte sie ja nicht gehabt.
Unablässig fielen Flocken, hatten die Schneefläche vor dem Café wieder geglättet, die Fußspuren aufgefüllt, Verwerfungen eingeebnet.
»Hier hast du einen Engel«, sagte Nicolai und ließ sich nach hinten fallen. Der Aufprall war hart, mit dem Steiß kam er zuerst auf, vom Schnee nur wenig gedämpft, er fühlte den Stoß in der ganzen Wirbelsäule, seine Zähne schlugen aufeinander, die Zungenspitze dazwischen, Salziges in seinem Mund. Wärme.
Totale, er kippte nach hinten, er würde eine Slowmo reinbauen, seine Arme gingen langsam nach oben, ein Strahl Flüssigkeit stieg aus der Flasche in seiner Hand, einzelne Tropfen setzten sich ab. Schnee stob auf, er würde Musik drunterlegen, I’m the lonely side of you , nein, zu kitschig.
Er streckte die Arme seitlich weg, legte sie in den Schnee. »Ich mach dir einen Engel«, seine Zunge schmerzte, sobald sie an den Gaumen stieß, »einen Eisengel, Schneeengel, was immer du willst.« Schneeflocken fielen in seinen Mund, waren erst rau, ehe sie flüssig wurden.
Er bewegte die Arme seitlich, hoch zum Kopf, sie schoben den Schnee zusammen, zu seinen Schultern, seinem Hals, pressten ihn gegen die Wangen, Ohrläppchen, unter die Mütze, unter den Schal. Er bewegte die Arme wieder runter, in einem Halbkreis bis zu den Oberschenkeln, drückte Schnee gegen die Jacke, Hose, schob die Arme erneut hoch und runter. Der Schnee an seinem Hals schmolz, kalte Tropfen liefen in den Jackenkragen. Immer schneller, hoch und runter, als wollte er sich in den hartgefrorenen Boden eingraben.
Er richtete sich auf, betrachtete die Flügel, sie waren gut
Weitere Kostenlose Bücher